«Als Kind dachte ich, das gehöre zur normalen Vater-Tochter-Beziehung»
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Missbrauch als Kind:«Ich dachte, das gehört zur Vater-Tochter-Beziehung»

Ex-Miss-Schweiz spricht über Missbrauch
«Ich dachte, das gehört zur Vater-Tochter-Beziehung»

Väter als Täter: Nach der Inzest-Debatte in Frankreich spricht die Walliser Ex-Miss Sarah Briguet über ihre Kindheit.
Publiziert: 14.02.2021 um 11:16 Uhr
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Aktualisiert: 15.02.2021 um 09:22 Uhr
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Sarah Briguet spricht über den Missbrauch in ihrer Kindheit.
Foto: ANDREA SOLTERMANN
Interview: Camille Kündig

Missbrauch in den eigenen vier Wänden, nicht durch einen Unbekannten, sondern durch den geliebten Vater: Inzest ist ein unvorstellbares Delikt. Doch er geschieht jeden Tag. Frankreich ist seit Anfang Jahr mit einer beispiellosen Welle von Opfer-Aussagen konfrontiert (SonntagsBlick berichtete). Der Ex-Miss-Schweiz Sarah Briguet (50) gab das den Mut, über ihr eigenes ­Leben zu sprechen.

Hier finden Sie Hilfe

Die Dargebotene Hand:
Anonyme Beratung unter Einhaltung der Schweigepflicht.
Per Telefon 143 und Online www.143.ch.

Beratungsstelle Castagna für sexuell ausgebeutete Kinder, Jugendliche und in der Kindheit ausgebeutete Frauen und Männer:
044 360 90 40, www.castagna-zh.ch.

Opferhilfe Schweiz:
www.opferhilfe-schweiz.ch

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044 360 90 40, www.castagna-zh.ch.

Opferhilfe Schweiz:
www.opferhilfe-schweiz.ch

SonntagsBlick: Frau Briguet, wie geht es Ihnen heute?
Sarah Briguet:
Danke, heute geht es mir gut. ­Dafür hat es ­allerdings vierzig Jahre, einen Bruch in der Familie, eine lange Psychotherapie und mehrere ­Klinikaufenthalte gebraucht.

Was ist geschehen?
Mein Vater missbrauchte mich zwischen meinem fünften und dreizehnten Lebensjahr. Wenn meine Mutter nicht zu Hause war, hat er Dinge mit mir gemacht, die ein Kind nicht verstehen kann. Um zu bekommen, was er wollte, hat er mich nie eingeschüchtert, aber massiv manipuliert.

Wie das?
Indem er mir vermittelte, dass alle Töchter das mit ihren Vätern tun. Ich spürte zwar die komische Stimmung und dass etwas anders war, als wenn wir uns vor der Schule umarmten. Aber ich vertraute ihm. Man vertraut ­seinem Vater.

Was geht in solchen Momenten im Kopf eines Kindes vor?
Ich mochte es nicht und verstand es nicht. Doch irgendwann hatte ich verinnerlicht, dass das zu ­einer normalen Vater-Tochter-Beziehung gehört. So wie man keine Lust hat, Hausaufgaben oder Ämtli zu machen, aber es halt trotzdem tun muss. Eines ­Tages aber, das weiss ich noch ­genau, habe ich gedroht, mich aus dem offenen Fenster zu stürzen.

Als Kind?
Als Sechsjährige.

Es hörte aber nicht auf ...
Nein. Mit dreizehn habe ich klar realisiert, dass es alles andere als okay ist. Ich habe ihm gesagt, dass ich Maman davon erzähle, sollte er nicht damit aufhören.

Und dann?
Er fasste mich nie wieder an und verhielt sich, als sei nichts ­geschehen.

Wie wird man nach einer solchen Kindheit erwachsen?
Ich habe eine Lehre absolviert, um so schnell wie möglich unabhängig zu sein, mit Achtzehn bin ich ausgezogen. Um Familientreffen zu überstehen und meine Mutter weiterhin sehen zu können, verdrängte ich, was geschehen war. Meine Sexualität und das Vertrauen in andere Menschen waren ins Tiefste erschüttert.

Kann man den eigenen Vater hassen?
Das ist schwierig. Wenn wir zusammen draussen etwas unternommen haben, liebte ich ihn. Wenn meine Mutter weg war und er komisch wurde, hasste ich ihn. Heute existiert er für mich nicht mehr. Es ist, als sei er tot, ohne es zu sein.

Haben Sie jemandem davon erzählt?
Mit siebzehn habe ich mich ­jemandem aus meinem engen Umfeld anvertraut. Die Person meinte, es sei besser, zu schweigen. Mitte zwanzig brachte ich den Mut auf, meine Mutter zu ­informieren. Sie war erschüttert – ist aber noch heute mit ihm ­zusammen.

Sie glaubt Ihnen nicht?
Doch, ich denke schon. Aber sie meinte, er könne mir ja nun nichts mehr anhaben, da ich nicht mehr im Elternhaus wohne. Mein Vater beschimpfte mich zunächst als krank und verrückt. Später bat er mich in einem Brief um Verzeihung. Darin betitelte er den Missbrauch allerdings als «leichtsinnigen Blödsinn». Ich glaube, für ihn ist alles nur halb so schlimm, weil es keine Pene­tration gegeben hat.

Sie haben lange gezögert, mit Ihrer Mutter über das Erlebte zu sprechen ...
Natürlich. Ich wusste, wenn ich spreche, zerstöre ich alles um mich herum. Das ist das Perfide am Inzest: Man verliert oft die Familie. Mit meinen engen Verwandten habe ich seit einem Jahr keinen Kontakt mehr, denn sie haben sich auf die Seite meines Vaters gestellt. Dabei hänge ich sehr an meiner Mutter. Ich denke, für diese Menschen ist es viel zu schwer, zu akzeptieren, was stattgefunden hat, also ­verdrängen sie es.

1994 wurden Sie zur schönsten Frau des Landes gekürt …
... und plötzlich war ich wieder ein Objekt. Mein Selbst­bewusstsein war auf dem Nullpunkt. Ich hatte Sehnsucht nach Gebor­genheit, die ich zu Hause nicht genügend erhielt. Die Fans und die Bühne gaben mir genau dies – es ist ein zweischneidiges Schwert. Das Jahr als Miss behalte ich aber in schöner Erinnerung, da war beispielsweise das Treffen mit Nelson Mandela.

Welche Folgen hatte der Missbrauch für Sie?
Inzest frisst das Innere ­eines Menschen auf. Ich war jahrelang suizidal und ritzte mich. Vier- bis fünfmal pro Tag spielten sich die Szenen vor meinem inneren Auge ab. Seit zwei Jahren hilft mir die EMDR-Traumatherapie, alles aufzuarbeiten. Die Methode wird auch bei Bataclan-Überlebenden oder Vietnam-Kriegsveteranen angewendet. Seither geht es mir viel besser. Meine Kinder haben mich ebenfalls mit dem Leben versöhnt.

Kommentar: Missbrauch in der Familie

Ihr Fall ist verjährt. Für Ihren Vater gilt die Unschuldsvermutung.
Als ich ihn mit 26 Jahren an­zeigen wollte, teilte mir mein ­damaliger Anwalt mit, der Missbrauch sei verjährt (seit 2008 sind Sexualdelikte an Kindern unter zwölf Jahren nicht mehr ­verjährbar; Red.). Ein Schlag ins Gesicht! Solche Verbrechen sollten heute auch rückwirkend eingeklagt werden können. Es braucht oft Jahrzehnte, bis das Erlebte verarbeitet ist und sich die Opfer gewappnet fühlen, die Justiz einzuschalten. Ein wenig Gerechtigkeit aber wird es ­vielleicht doch geben: Meine Aus­sagen werden innerhalb eines anderen, nicht verjährten Falles im familiären Umfeld ­angehört.

Sie sprechen nun selbst öffentlich darüber. Weshalb?
Ich will anderen Betroffenen ­zeigen, dass sie nicht alleine sind und ihnen Hoffnung machen: Man kann damit abschliessen und glücklich werden. Aber es braucht mehr Prävention in den Schulen – sie müsste obliga­torisch sein. Es braucht mehr sensibilisierte Eltern und mehr offene Diskussionen. Die #MeTooInceste-Bewegung aus Frankreich schaffte es bisher nicht, in die Schweiz zu ge­langen – vielleicht klappt es jetzt.

Gegen Briguets Vater läuft eine ­Untersuchung der Staatsanwaltschaft zu ähnlichen Vorwürfen. Er lebt in Spanien und war für eine Stellungnahme nicht erreichbar.

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