Es war ein Tag wie heute. Im hohen Gras der Wiesen zirpen Grillen. Alte Bäume werfen lange Schatten. Wie damals an jenem verhängnisvollen Samstagmittag zeigen die Schilder der Kreuzung in mehrere Richtungen. Einer der Wege führt durch den Wald zur berühmten Kristallhöhle.
Hier inmitten der ländlichen Idylle des St. Galler Rheintals geschieht am 31. Juli 1982 eines der mysteriösesten Verbrechen der Schweizer Kriminalgeschichte. Der Doppelmord an den jungen Goldacherinnen Brigitte Meier (†17) und Karin Gattiker (†15) wurde nie aufgeklärt.
Ihre traurige Geschichte beginnt am 29. Juli 1982. Die Teenager brechen mit dem Velo von ihrem Heimatort Goldach SG zu einer Drei-Tages-Tour ins Appenzellerland auf. Sie essen zu Mittag bei Karins Grossmutter in Herisau AR. Ein fremder Mann habe sie mit ihrer Kamera fotografiert, berichten die Mädchen damals arglos. Das Foto wird ihr letztes sein.
Hatten die Goldacherinnen sich verirrt?
Nach zwei Übernachtungen in der Jugendherberge in Schwende AI machen sich die jungen Frauen am 31. Juli auf den Heimweg. Es ist kurz vor 12 Uhr Mittag. Bis nach Goldach sind es noch 30 Kilometer. Brigitte Meier und Karin Gattiker bleiben mitten auf der Strassenverzweigung in Kobelwies SG stehen. Eine Familie aus dem Weiler der Gemeinde Oberriet SG fährt im Auto vorbei. Sie beobachtet, wie die Mädchen in eine Landkarte schauen. Sie scheinen sich verirrt zu haben. Das war das letzte Mal, dass die Teenagerinnen lebend gesehen wurden.
Gegen 21.30 Uhr passiert die Familie ein weiteres Mal die Kreuzung. Diesmal fallen den Zeugen die verlassenen Velos am Strassenrand auf. Die Habe der Ostschweizerinnen steckt noch auf dem Gepäckträger inklusive Fotoapparat. Noch am gleichen Abend werden Brigitte Meier und Karin Gattiker als vermisst gemeldet. 150 Polizisten und Feuerwehrleute, sowie Freiwillige durchkämmen den Wald rund um die Kristallhöhle. Ein Helikopter der Armee kreist über das waldige Gebiet. Im nahe gelegenen Naturschutzgewässer «Wichenstein» suchen Polizeitaucher nach den Vermissten. Auch Spürhunde werden eingesetzt. Die Mühen bleiben ergebnislos.
Zu viele Verdächtige, zu viele offene Fragen
Erst neun Wochen später, am 2. Oktober 1982, bemerkt ein Wanderer aus Herisau einen stechenden Geruch und entdeckt unter einer Steinplatte die stark verweste Leiche von Brigitte Meier. Am Tag darauf werden auch die sterblichen Reste von Karin Gattiker in einer Halbhöhle gefunden. Die Mädchen wurden vermutlich mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen. Ob sexueller Missbrauch vorlag, kann nicht mehr geklärt werden.
Die Kreuzung wird zum Sinnbild der darauffolgenden Polizeiarbeit. Die Kripo ermittelt in viele Richtungen. Ans Ziel kommt sie nie. Zu viele scheinen verdächtig, zu viele Fragen gilt es zu beantworten. Stammt der Täter aus dem Dorf? Hatte er Komplizen? War die Tat geplant? Oder war sie zufällig?
Auch «Aktenzeichen XY - ungelöst» sucht nach Hinweisen
Drei Höhlenwarte geraten ins Visier der Fahnder, auch ein Architekt aus Kobelwies, dessen silbergrauer Mercedes 230 samt Pferdehänger am Fundort der Velos gesehen wurde. Der Zeuge berichtet von einem Mann und einer Frau, die mit zwei Damenvelos hantierten. Der Architekt kam in U-Haft, wurde mangels Beweisen wieder freigelassen. Ebenfalls steht vorübergehend ein Chauffeur, ein vorbestrafter Sexualtäter, unter Mordverdacht. Ein Kriminalbeamter wird suspendiert. Er hatte vertrauliche Details weitergegeben.
Ein Jahr nach dem Doppelmord sucht die ZDF-Sendung «Aktenzeichen XY – ungelöst» nach Hinweisen aus der Bevölkerung. Doch nichts führt zum Täter. Anfang der 90er-Jahre werden die Ermittlungen eingestellt. 2012 ist der Kristallhöhlenmord verjährt. Sämtliche Asservate werden vernichtet. Vergessen wird der Fall nicht.
Anfang der 2000er-Jahre gründet der St. Galler Thomas Benz (47) die «Interessengemeinschaft Kristallhöhlenmord». Der Bestatter geht auf Spurensuche. Er befragt Zeugen, zieht einen Hellseher und Buchautor Peter Beutler hinzu. 2014 erscheint dessen Roman «Kristallhöhle». Schon im Jahr 2000 lässt sich der St. Galler Journalist Arthur Honegger vom Kristallhöhlenmord inspirieren und schreibt den fiktiven Roman «Zwillinge».
Blick-Journalist schreibt Buch über den Doppelmord
Im Jahr 2016 beginnt der damalige Blick-Journalist Walter Hauser seine Recherchen zum Fall. Sein Werk «Hoffen auf Aufklärung» erscheint 2018. Zeitgleich begibt sich auch der prominente deutsche Kriminalist Axel Petermann im St. Galler Rheintal auf Spurensuche.
Seiner Analyse zum Doppelmord widmet er ein Kapitel im Buch «Im Auftrag der Toten». Der Experte schätzt den Täter damals auf 25 bis 35 Jahre alt. Er sei weder pädophil noch sadistisch gewesen, habe damals vermutlich allein gelebt. Die Mädchen habe er im Affekt getötet. Sie waren zur falschen Zeit am falschen Ort, so Petermanns Erkenntnis. Die meisten Hobby-Ermittler sind sich in einem Punkt einig: Der Mann hat Ortskenntnisse, kommt möglicherweise aus dem Dorf und lebt möglicherweise noch immer am Ort des Grauens.
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