«Mich kribbelts», sagt der Mann am schroffen Abgrund vor der Kristallhöhle in Oberriet SG. «Es schaudert mich!» Dabei ist der ältere Herr an der Brüstung keiner, der sich leicht Angst machen lässt. Axel Petermann (64) aus Bremen beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Bösen. Als Profiler erstellt der Deutsche Persönlichkeitsprofile von Straftätern, meist Mördern. Er hilft, wenn die polizeilichen Ermittler nicht weiterwissen.
So wie hier: Im Oktober 1982 wurden ganz in der Nähe die Leichen von Brigitte Meier (†17) und Karin Gattiker (†15) gefunden. Am 31. Juli 1982 waren die Mädchen aus Goldach SG bei einer Velotour verschwunden. Polizei, Feuerwehr und viele Freiwillige suchten acht Wochen lang. Dann machte ein Spaziergänger die schreckliche Entdeckung: Brigitte Meiers Leiche lag in einem Wurzelloch, zugedeckt mit einer 100 Kilogramm schweren Steinplatte. Karin Gattiker war 50 Meter davon entfernt in einer Felshöhle versteckt.
Noch immer beschäftigt der Rätselmord die Menschen im St. Galler Rheintal. Trotz aufwendiger Ermittlungen liess sich bis heute kein Täter ermitteln.
Auch Petermann hat schon viel vom Doppelmord bei der Kristallhöhle gehört. Mit SonntagsBlick will er sich vor Ort ein Bild machen, den Mord analysieren und so ein Profil des Täters erstellen. In Deutschland wurden mit seiner Hilfe zahlreiche Kriminalfälle aufgeklärt – Jahre nach der Tat. «Auch dieser Mord hier kann gelöst werden», ist der Kriminalist überzeugt, «selbst wenn die Tat schon 34 Jahre zurückliegt.»
«Höchst raffiniert und professionell versteckt»
Nach Schweizer Recht ist sie verjährt. Doch Petermann weiss: Auch heute noch wollen viele wissen, wer die Tat begangen hat – und warum: «Sie haben das Bedürfnis, die Wahrheit zu erfahren. Dieses Bedürfnis kennt keine gesetzlichen Fristen.»
Nach Auffassung des Tatortanalytikers führt die entscheidende Spur über den Fundort der Leiche von Karin Gattiker. «Sie wurde höchst raffiniert und professionell versteckt», sagt Petermann. Er blickt in die Schlucht beim Wasserfall. Dort war die Leiche des Mädchens aufgefunden worden. «Dieses Versteck sagt viel über den Täter.»
Der Mann sei ein enormes Risiko eingegangen: «Er muss das Gelände in- und auswendig gekannt haben und ein Kletterer gewesen sein.» Ohne Seil und Kletterwerkzeug hätte er mit der Leiche den Abstieg nie geschafft, ist Petermann überzeugt.
Nach dem Fund der Getöteten gerieten mehrere Verdächtige ins Visier der Polizei (siehe rechts). Zunächst wurde ein Chauffeur verhaftet, der bereits früher mit Sexualdelikten auffällig geworden war. Er aber scheidet für Profiler Petermann als Täter aus. Auch einen Lehrer und einen Architekten, gegen die ermittelt wurde, entlastet Petermann.
Für ihn stehen drei Männer im Zentrum, die in der Höhle arbeiteten und mit dem Gelände vertraut sind: ein 2007 verstorbener Höhlenwart, ein Geologe und ein Wirt. Möglich ist laut Petermann auch, dass es einen Helfer gab, der die Leichen für den Täter versteckte.
Höhlenwart könnte vom Mord gewusst haben
Petermann denkt dabei an einen Höhlenwart, der auch als Wirt in einem nahen Hotel arbeitete. Der Mann war damals 23 Jahre alt und hatte an jenem 31. Juli, als die Mädchen verschwanden, Dienst in der Höhle. Auf dem Weg dorthin fuhr er im Auto an der Wegkreuzung vorbei, wo die Mädchen ihre Fahrräder abgestellt hatten. Er will weder sie noch ihre Velos bemerkt haben.
Laut Petermann müssen die Mädchen freiwillig in ein Fahrzeug gestiegen sein. Dass sie gewaltsam in den Wagen gezerrt worden sind, schliesst er aus.
In diesem Fall hätten die Velos nicht so ordentlich parallel am Strassenrand gestanden.
Petermann glaubt, dass sich etwas im Bereich der Höhle abgespielt haben muss, möglicherweise der Versuch eines sexuellen Übergriffs, der eine Eskalation mit tödlichen Folgen ausgelöst hatte.
Den Tatverlauf sieht Petermann so, dass Brigitte Meier sterben musste, weil sie die Tötung ihrer Freundin beobachtet hatte. Als sie versuchte wegzulaufen, holte der Täter sie ein und tötete auch sie.
Brigitte Meier wies eine schwere Schädelfraktur auf, Karin Gattiker wurde vermutlich erwürgt. Dafür, dass mehrere Männer beteiligt gewesen sein könnten, spricht nach Petermanns Verständnis, dass der Höhlenwart, der als Wirt arbeitete, damals 150 Kilo wog und kaum klettern konnte. «Er muss einen Helfer gehabt haben», sagt Petermann.
«Er muss einen Helfer gehabt haben»
Auf einer der Leichen wurde der Kugelschreiber einer Firma aus Herisau AR gefunden. Dort arbeitete der junge Geologe. War er es, der dem Täter half, die Leichen zu verstecken?
Für Petermann steht fest: Der Täter und sein möglicher Helfer haben die Leichen nachts mit Hilfe von Seilen und Kletterwerkzeug versteckt und wollten sie für immer verschwinden lassen. «Es war kein Profikiller, aber ein mit dem Gelände Vertrauter, ein Kletterer und Höhlenkenner.»
Axel Petermann will das vom Täter ausgesuchte Höhlenversteck unbedingt besichtigen. Doch das Wetter macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Im nächsten Jahr will er es noch einmal versuchen.
Der erfahrene Kriminalist: «Ich möchte bei der Aufklärung dieses mysteriösen Mordfalls ein Stück vorankommen.»