Erziehungspapst Remo Largo kritisiert Ranglisten
«Die Pisa-Studien bringen nichts»

Nun meldet sich der Erziehungspapst Remo Largo zu Wort: Was muss sich ändern im Schweizer Bildungssystem?
Publiziert: 08.12.2019 um 14:54 Uhr
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Die jüngste Pisa-Studie zeigt: Schweizer Schüler haben Mühe mit Lesen.
Foto: Julie Lovens
Interview: Rachel Hämmerli

SonntagsBlick: Was halten Sie von den Pisa-Studien?
Remo Largo:
Sie gleichen einer Olympiade. Es geht nur um die Frage: Ist jetzt die Schweiz in der Rangliste vorne oder zurückgefallen? Das ist doch nicht entscheidend.

Sondern?
Jeder sechste Neuntklässler ist auf dem Niveau eines Viert- bis Fünftklässlers. Und das ist länder­übergreifend so. In China und Finnland gibt es auch Kinder, die kaum oder überhaupt nicht lesen können. Unser Bildungssystem hat nicht versagt. Die Vielfalt unter Kindern bleibt auch im besten Bildungssystem bestehen.

Warum ist das so?
Ein Vergleich: Unsere Vorfahren begannen vor ungefähr 3,5 Mil­lionen Jahren aufrecht zu gehen. Die Sprache entwickelten wir vor 200'000 Jahren, die Schrift vor 5500 Jahren – also eigentlich vor kurzem. Die Bevölkerung wird erst seit 200 Jahren im Lesen geschult. Lesen ist ein neues Kulturgut. Es spielte in der Menschheitsgeschichte nie eine Rolle. Deshalb die grosse Vielfalt unter den Menschen.

Was kann man denn tun, damit Kinder mehr lesen?
Sie können keine Fähigkeit über das Begabungspotenzial eines Kindes hinaus fördern. Wir müssen endlich aufhören voraus­zusetzen, dass alle Kinder die gleichen Fähigkeiten besitzen. Neuntklässler, die im Lesen auf dem Entwicklungsstand eines Viertklässlers sind, hatten viele Stunden Deutschunterricht und Zugang zu Büchern. Trotzdem können sie nicht besser lesen. Wissen Sie, was wir damit erreichen?

Was?
Die Schule wird zum Horror. Die Kinder merken, dass sie auch mit grösster Anstrengung nicht aufschliessen können. Sie werden deprimiert und verlieren ihr Selbstwertgefühl.

Wie kann man die Motivation erhalten?
Indem Lehrer sich fragen: Wo steht das Kind? Und ihm dann Texte geben, die seinem Entwicklungsstand entsprechen. Lieber man gibt einem Neuntklässler einen Text geschrieben wie für einen Fünftklässler, anstatt ihn mit Neuntklassstoff zu überfordern. Hauptsache, er versteht, was er liest, und hat ein Erfolgserlebnis.

Könnte Digitalisierung, also beispielsweise mehr iPads im Unterricht, dabei helfen?
Es kann helfen, die Kinder anfänglich zu begeistern. Aber es ändert nichts am Grundproblem: Es spielt keine Rolle, ob ein Text auf einem Display leuchtet oder ausgedruckt ist. Das Kind versteht ihn nicht. Punkt.

Ein grosses Interesse gilt den Migrantenkindern.
Kinder lernen eine fremde Sprache durch andere Kinder, weniger durch Erwachsene. Dabei sind die ersten fünf Lebensjahre entscheidend. Die Kanadier haben die Dringlichkeit bereits 1980 bemerkt und für fremdsprachige Familien eine Krippenpflicht eingeführt. Ab dem zweiten Lebensjahr muss jedes fremdsprachige Kind in Kanada eine Krippe besuchen. So sprechen die Kinder mit fünf Jahren gut Englisch und können problemlos integriert werden. In der Schweiz können sich die meisten Migranteneltern keinen Krippenplatz leisten.

Auch Schweizer Kinder haben Mühe mit Deutsch.
Richtig. Wenn Kinder zu Hause ohne Kontakt zu anderen Kindern aufwachsen, haben sie das Problem auch. Darum sage ich: Krippen sind Teil des Bildungssystems und müssen entsprechend von der Öffentlichkeit bezahlt werden.

Wie gut lesen Erwachsene?
In der Bevölkerung leben mindestens 800'000 normal intelligente Menschen, die alle durch unsere Schulen gingen und nicht alltagstauglich lesen können. Diese Menschen sind nicht dumm – ihnen fehlt es einfach an Begabungs­potenzial fürs Lesen.

Was bringen die Ergebnisse der Pisa-Studien?
Sie bestätigen länderübergreifend die Tatsache, dass Kinder innerhalb ihrer Altersklasse sehr verschieden entwickelt sind. Ansonsten bringen die Pisa-Studien nichts.

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