Wie sieht die aktuelle Lage aus?
In der Schweiz sind seit Beginn der Pandemie 13'380 Menschen am Coronavirus gestorben. Über 50'000 wurden hospitalisiert, Millionen infiziert. Per 1. April hob der Bundesrat die besondere Lage auf, weil die Pandemie unter Kontrolle schien. Die Massnahmen wurden beendet. Mittlerweile steigen die Zahlen wieder stark. Die Fälle haben sich in den letzten zwei Wochen verdoppelt, gestern meldete das Bundesamt für Gesundheit (BAG) 24'707 Neuansteckungen innerhalb der letzten sieben Tage. Das BAG sagt gegenüber Blick, dies habe vor allem mit den Omikron-Varianten BA.4 und BA.5 zu tun, die in den vergangenen Wochen in mehreren Regionen der Schweiz zu den dominierenden Varianten wurden. Das BAG geht davon aus, dass «die Fallzahlen weiter zunehmen werden».
Ist die Situation beunruhigend?
Nein. Es gibt zwar sehr viele Fälle – weil kaum getestet wird, ist die Dunkelziffer noch viel höher als zum Beispiel im letzten Herbst – aber das ist für die Pandemie nicht mehr relevant. Das Motto «die Kurve abflachen» war wichtig, als es kaum Informationen über das Virus gab. Doch seit einiger Zeit gilt die Devise, die Zahl der Spitaleinweisungen niedrig zu halten. Obwohl auch diese im Wochenvergleich um 25,2 Prozent gestiegen ist, gibt es für Didier Trono keinen Grund zur Panik. Der Lausanner Virologe sagt, dass Omikron nach wie vor infektiöser ist, aber weniger wahrscheinlich eine schwere Krankheit auslöst als seine Vorgängermodelle. Allerdings müsse jetzt genau beobachtet werden, wer ins Krankenhaus eingeliefert wird. Dabei muss etwa geschaut werden, ob die Eingelieferten vorher geimpft wurden oder nicht oder ob sie an anderen gesundheitlichen Problemen leiden. Dies sei aussagekräftiger als die Daten des BAG, die in der Regel erst spät vorliegen und nicht detailliert genug seien. Auch Tanja Stadler (41), Ex-Chefin der Corona-Taskforce, sagte diese Woche zu Blick, mit den aktuellen Varianten sei keine Überlastung der Intensivstationen mehr zu befürchten, auch wenn die Normalstationen wieder mit mehr Covid-Patienten rechnen müssten.
Wo bleibt die vierte Impfung?
Von vielen Seiten wird eine weitere Auffrischung gefordert, so auch von Tanja Stadler, die sagt, dass dies den gefährdeten Personen zugutekäme. Einen Impfstoff gegen Omikron gibt es allerdings noch nicht. In kontrollierten Studien am Menschen hat sich noch keiner als wirksam erwiesen, sagt Didier Trono.
Warum stecken sich so viele Menschen wieder an?
Tatsächlich haben viele der Infizierten derzeit bereits zum zweiten Mal Corona. Obwohl nach Angaben von Stadler 97 Prozent der Erwachsenen in der Schweiz Antikörper gegen Covid haben. Der Grund: Omikron und insbesondere die neuen Varianten BA.4 und BA.5 sind sehr gut darin, sich dem Schutz durch frühere Infektionen zu entziehen. Die gute Nachricht kommt von Didier Trono: «Wenige Wochen bis Monate nach der Infektion oder einer dritten Auffrischungsimpfung ist man in der Regel auch gegen Omikron-Varianten stark und umfassend geschützt, zumindest gegen schwere Erkrankungen.»
Entweder eine neue Infektion alle paar Monate oder eine neue Impfung – ist das künftig unser Leben?
Es ist noch zu früh, um absolute Aussagen zu machen. Aber Didier Trono ist optimistisch, dass es nicht so weit kommen wird. «Mit jeder Infektion verbessert der Körper sein Abwehrsystem gegen das Virus weiter. Ich halte es daher für realistisch, dass man sich gelegentlich wieder ansteckt, aber keine ernsthafte Erkrankung entwickelt.» Allerdings ist bisher nicht klar, welche Langzeitfolgen Omikron und auch das mehrmalige Anstecken mit sich bringen.
Was bedeutet das für die Zukunft?
«Die Überwachung der schweren Verläufe in den nächsten Wochen bis Monaten sollte oberste Priorität haben, um zum Beispiel zu entscheiden, ob eine vierte Impfdosis empfohlen werden sollte», sagt Trono. Vom Bund erwartet er, die Situation ebenfalls genau zu beobachten und zu handeln, falls es nötig sein sollte. «Nicht wie zum Beispiel im letzten Jahr, als die Experten bereits im Sommer sagten, dass jetzt geimpft werden muss. Damals gab es viele schwere Infektionen in der Herbst-Welle, die dadurch hätten verhindert werden können. Das müssen wir diesmal unbedingt vermeiden.»