Darum macht das Leben gerade Mühe
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Die neue (Ab-)Normalität
Darum macht das Leben gerade Mühe

Dutzende von Irritationen im Alltag, zweierlei Gesetz und eine neue Gretchenfrage: Der Corona-Lockdown stellt viele Gewohnheiten auf den Kopf.
Publiziert: 21.06.2020 um 00:08 Uhr
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Aktualisiert: 21.06.2020 um 11:25 Uhr
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Normale Absurdität dieser Tage: Fussball ohne Publikum aber mit Pappkameraden.
Foto: Andy Mueller/freshfocus
Tobias Marti

Nun ist sie vorüber, die Notlage. Aber Margrit Brunner (55) geht lieber auf Nummer sicher und hält weiter genügend Abstand zum Nebenmann – die Frau aus Dietlikon ZH nennt es «die neue Normalität». Und Cornelia Baum (40) aus Rickenbach-Attikon ZH ist noch immer irritiert von dem, was genau sie darf und was nicht.

Die beiden Bürgerinnen, von Blick TV auf der Strasse nach ihrem Befinden gefragt, zeigen Verunsicherung darüber, dass langweilige Alltagssituationen seit Ausbruch der Corona-Pandemie blitz-schnell zu einer verworrenen Lage mutieren können – die sich so gemütlich anfühlt, wie in der Fussgängerzone von einem dressierten Bären angetänzelt zu werden.

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Die zwei Passantinnen sind in bester Gesellschaft: Eigentlich versteht niemand die Zustände im Land. Am Samstag vor einer Woche gingen trotz Versammlungsverbot Tausende auf die Strasse, um gegen Rassismus zu demonstrieren – Schwarz in Schwarz, Schulter an Schulter, Virus neben Virus. Die Polizei schaute zu.

Eine Woche später startete die Fussballliga, ebenfalls eine Massenveranstaltung, nur diesmal ohne Masse. Um die Auflagen penibel zu befolgen, wurde ohne Publikum gespielt.

Namentliche Registrierung im Nachtclub

Die vegetarische Restaurantkette Tibits verhielt sich fast noch streberhafter und platzierte das erste Desinfektionsmittel bereits an den Eingängen. Vor dem ­Salatbuffet wird nochmals nachdesinfiziert; zur Sicherheit gibt es Einweghandschuhe zum Überstülpen. En Guete!

Locker nachlässig dagegen handhabte ein Zürcher Nachtclub die Auflagen, der schnell ein paar Franken ­extra verdienen wollte. Aus Gründen der Nachverfolgung darf drinnen eigentlich nur tanzen, wer sich zuvor namentlich registriert hat. Nur wurde an der Abendkasse die eine oder andere Ausnahme gemacht. Glück für jene, die schnell reinschlüpften. Pech für die anderen, wenn unter den Namenlosen eine Virenschleuder war.

Keine Maskenpflicht im ÖV

Beispiel ÖV: Die Pendler sollen vom Homeoffice doch bitte wieder ins Büro wechseln. So der Wunsch der SBB, die ihre Kunden zurückhaben will. Eine Maskenpflicht aber hat sie bisher nicht eingeführt. Wer geschützt im Zug sitzt, ist meist der einzige Ausserirdische im Abteil.

Am verwirrendsten bleibt die Politik: Am Donnerstag warnte Matthias Egger vor weiteren Lockerungen und empfahl dem Bundesrat, ­unverzüglich eine Maskenpflicht einzuführen. Egger ist nicht irgendwer, sondern Leiter der wissenschaft­lichen Corona-Taskforce, die den Bundesrat berät. Die Landesregierung jedoch tat tags darauf genau das Gegenteil. Das Siebenergre­mium lockerte radikaler als erwartet und pfeift auf eine generelle Maskenpflicht.

So viele Widersprüche – und manche sind schwer zu ertragen. Gewohnt sind wir, dass jemand eine Regel macht, jemand sie durchsetzt und jemand sie befolgt (oder nicht). In der Corona-Pandemie ist diese Ordnung durcheinandergeraten.

«Verstoss gegen das Gleichheitsprinzip»

«Das Gesetz wird gerade ungleich angewendet. Das ist ein Verstoss gegen das Gleichheitsprinzip», sagt Francis Cheneval, Professor für politische Philosophie an der Universität Zürich. Im Fall der Demo habe der Staat die Verhältnismässigkeit höher gewichtet als die Gleichheit vor dem Gesetz.

Seit Freitag befinden wir uns neu in einer sogenannten besonderen Lage. Der Mindestabstand schrumpft um einen halben Meter, Versammlungsverbot und Polizeistunde entfallen, Anlässe bis 1000 Personen (gegebenenfalls mehr) sind wieder erlaubt. Die Kantone haben nun die Verantwortung. Und selbstverständlich jeder einzelne Bürger.

«Wir befinden uns in ­einer kritischen Phase», sagt Francis Cheneval, der dem Volk eine gewisse Fahrlässigkeit attestiert – Stichworte: Masken-Müdigkeit, Desinfektions-Deprimiertheit, Abstands-Allergie.

Er vermutet als Motiv ­einen neuen Wunderglauben: «Gewisse Leute haben den Eindruck, wenn sie für eine gute Sache demonstrieren, seien sie immun gegen das Virus.» Tatsache aber sei: «Ein Virus ist asozial, apolitisch und nicht ideo­logisch. Es unterscheidet nicht, wen es ansteckt.»

Regeln werden unterschiedlich gehandhabt

Zu Beginn der Corona-Krise sassen alle im gleichen Boot. «Niemand konnte etwas dafür, die Pandemie schien eine Laune der Natur zu sein», sagt Johannes Ullrich, Professor für Sozialpsychologie an der Universität Zürich. Nach einer Weile begannen die Passagiere aber auf dem Corona-Dampfer zu vergleichen und stellten fest: Die einen durften irgendwann aufs Sonnendeck, die anderen mussten runter in den Maschinenraum.

Wir erleben gerade, wie sich Normen verändern und Regeln unterschiedlich gehandhabt werden, beschreibt Ullrich die Lage. Das Ergebnis sei ein Flickenteppich: «Dies verwirrt und führt zu Konflikten.»

Wie bei Goethes «Faust»: Zuerst wird geturtelt, dann stellt das Gretchen ihrem Faust die Killerfrage: «Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?» Ab da wird die Beziehung toxisch. Heute stellen wir die Gretchen­frage so: «Nun sag, wie hast du’s mit der Maske?»

Tragen oder ablehnen, wann ja und wann nicht, wo und wo nicht – die Unterschiede sind enorm. «Dabei haben wir es alle mit dem ­einen Problem zu tun, einer Pandemie», konstatiert Ullrich. Dennoch gebe es verschiedene Lösungen, und das mache uns Mühe: «Da­rum sind wir überzeugt, dass eine der Lösungen falsch sein muss.»

«Entscheidungen machen müde.»

So komplex der Mensch, so schlicht ist bisweilen sein Verhalten: «Wir hassen nichts mehr, als ständig nachdenken zu müssen», so der Sozialpsychologie weiter. Wenn Regeln und Normen nicht mehr gelten, müsse man von Fall zu Fall neu überlegen. «Entscheidungen zu treffen, macht aber müde. Entscheidungen zu treffen, erschöpft.»

Einheitlichkeit sei darum etwas Wunderbares. Gewohnheiten machten einen Grossteil unseres Alltags aus. Ullrich: «Seit der Pandemie aber muss im Alltag über alles, was eine Gewohnheit darstellt, neu nachgedacht werden. Das erzeugt Unlust.»

Neu reichen uns drei Wörter aus, um die Welt zu verstehen: «in meinem Umfeld». Sogar Experten und Offizielle berufen sich gerade auf dieses ganz persönliche Erleben. Deutschlands Gesundheitsminister Jens Spahn sagte dem Deutschlandfunk: «Ich habe die Tage in einem ICE einen richtigen Streit erlebt zwischen Maskenträgern und Nicht-Maskenträgern mit gegenseitigen Vorwürfen.»

Niemand weiss, wie es weitergeht

Spahn stünde ein wahres Experten-Geschwader zur Verfügung. Doch er erklärt die Welt mit einer Anekdote aus dem Zug. Die Verhaltens­psychologin Bettina Schindler erklärt das Paradox durch den Befund: «Es melden sich viele Experten zu Wort und trotzdem weiss am Ende niemand, was jetzt stimmt und wie es weitergeht.» Eigene Erfahrungen machten etwas so Abstraktes wie ein Virus zumindest greifbar.

Niemand weiss, wie lange die Pandemie noch dauert. Oder ob eine zweite Welle anrollt. Klar ist: Wir erleben historische Zeiten, denn wir erfahren gerade eine Veränderung der Norm. «Tatsächlich gibt es eine neue Höflichkeit», so der ­Sozialpsychologe Ullrich. Abstand halten als neue ­Tugend, Distanz als Zeichen des Respekts.

Eine Veränderung der Sitten, wie sie einst die französische Bourgeoisie erlebte. Höflinge gewöhnten den Bürgern bei Tisch rasch das unschöne Geschmatze ab, das zuvor als Lob des Gastgebers galt. Heute befehlen nicht mehr die Hof­schranzen, wie wir richtig zu ­kauen haben, sondern Viro­logen.

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