«Die Natur hat mich hierher zurückgezogen»
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Rückkehrer Michael Keller (40):«Die Natur hat mich hierher zurückgezogen»

Die Kinder der Aussteiger kehren ins Tal zurück
Das Onsernone-Syndrom

Einst war es Sehnsuchtsort der Aussteiger, heute kämpft das Tessiner Onsernonetal mit der Abwanderung. Zwei junge Familien sind zurückgekehrt, um ihm neues Leben einzuhauchen.
Publiziert: 01.10.2022 um 13:20 Uhr
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Aktualisiert: 03.10.2022 um 10:10 Uhr
Lea Ernst

Es gibt Schönheit, die ist gleissend. Zum Beispiel, wenn man an der Seepromenade in Locarno ein Gelato schleckt. Manchmal ist sie sanft, wie die Hügelketten, die sich um den Luganersee schmiegen. Die Schönheit des Onsernonetals trifft einen hingegen wie ein kleiner Schock. Ein Boxhieb in die Magengrube, wenn sich das wilde Tal vor einem auftut und das Postauto den Steilhang entlang zirkelt. Links schwindelerregende Tiefe, rechts schroffe Berge.

Millimeter trennen gelben Lack von grauem Lack, als ein Auto entgegenkommt. Der Busfahrer lässt das Fenster runter, holt tief Luft und ruft: «Ciao Maria, come stai?!» Kurzes Geplänkel, beide lachen. Das Postauto fährt weiter, hupt hie und da ein paar Ziegen aus dem Weg und schmettert sein «Düdado» um die felsigen Kurven. Immer höher, immer tiefer hinein in das verwunschene Tal im hintersten Winkel des Tessins.

Von Crana nach Afghanistan

Michael Keller (40) sitzt in der Sonne. Nur 40 Minuten hat man von Locarno nach Auressio, das erste von neun Dörflein, die am steilen Nordhang kleben. Doch fühlt es sich an wie eine Reise zurück in der Zeit. Dschungelartig umwuchert der Wald die bunten Häuschen und Rustici aus Stein. Es ist still, nur der Isorno rauscht ganz leise durch sein Bett am Talgrund. Ein alter Mann wischt die ersten Herbstblätter von seinem Hauseingang. Dann wieder Stille.

«Ich habe immer gewusst, dass ich eines Tages hierher zurückkehren werde», sagt Keller und nimmt einen Schluck Espresso. Vor ihm das Tal-Panorama, hinter ihm die Villa Edera. Aufgewachsen ist Keller in Crana, ein paar Dörfer weiter. Seine Eltern zog es als Teil der 1968er-Bewegung hierher. Rund 150 Menschen aus der Deutschschweiz wollten damals aus der Gesellschaft aussteigen. Und haben sich hier ein neues Leben aufgebaut.

Nachdem er die grosse Welt erkundet hat, zog Michael Keller (40) wieder zurück ins Onsernonetal.
Foto: Lea Ernst

Manche sind geblieben, manche zogen nach ein paar Jahren wieder weg. Wie Kellers Mutter, die den damals Siebenjährigen mit in die USA nahm. Er lernte Englisch, studierte mit Hilfe eines Stipendiums Internationale Beziehungen an einer der renommiertesten Universitäten der Welt: Georgetown in Washington. Danach arbeitete er für die Regierungsbehörden, zog für ein Hilfswerk zwei Jahre in den Senegal.

Es folgten Einsätze als Delegierter für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) im Tschad, dann im Mittleren Osten, 2010 in Afghanistan. Doch zufrieden war Keller nicht. Durch die vielen bürokratischen Hürden war es unmöglich, vor Ort tatsächlich etwas zu verändern. «Ich war frustriert und desillusioniert», sagt er. So hängte er die Diplomatenkarriere an den Nagel.

1995 wurden die einzelnen Dörfer des Tals zur Gemeinde Onsernone fusioniert.

Über all die Jahre war er in seinen Ferien immer wieder ins Onsernonetal zurückgekehrt, hatte bei Freunden gewohnt. So auch 2016, als ihm der Gemeindepräsident von der Villa Edera erzählte, in der damals hin und wieder ein Klassenlager übernachtete.

Kurzerhand übernahm Keller das Gebäude, gestaltete es um und eröffnete es bereits in der darauffolgenden Saison als Hostel. Seither gehört Keller wieder zu den knapp 700 Einwohnerinnen und Einwohnern des Tals. Er und seine Frau wohnen in Auressio. Keller liebt die kleinen Dörfer: «Hier ist es bodenständiger. Irgendwie ehrlicher.»

Dem Tal neues Leben einhauchen

Lautes Brummen zerreisst die Idylle. Ein Helikopter surrt über Auressio, bleibt über dem Nachbardorf in der Luft stehen. Das Seil wird hinuntergelassen, ein grosses Paket in die Luft gezogen. «Baumaterial, das sie zu den Berghütten transportieren», erklärt Keller. «Die sind nur zu Fuss zu erreichen.» Der Helikopter verschwindet hinter den Berggipfeln.

Kellers Hostel, die Villa Edera, gehört zu den wenigen Herbergen im Tessin.
Foto: Lea Ernst

Wie die meisten abgelegenen Orte kämpft auch das Onsernonetal gegen die Abwanderung. Weil es hier oben an Aufstiegsmöglichkeiten fehlt, gehen die jungen Leute weg. Nach Locarno oder in andere Städte, um zu studieren oder zu arbeiten. Dagegen will Keller ankämpfen: «Ich will Arbeitsplätze schaffen und wieder mehr Leben reinbringen.» Seine Idee: Schweizer und ausländischen Backpackern die Schönheit des Tals zeigen und so den Tourismus sanft ankurbeln.

Inzwischen ist seine Idee zu drei Herbergen und zahlreichen Ferienhäusern angewachsen: die Wild Valley Homes. Auch den Infopoint des Onsernonetals, direkt neben der Villa Edera, hat Keller übernommen. «Ich will das Onsernonetal sichtbarer machen», sagt er, der sechs Sprachen spricht.

Abenteuer abseits von Instagram

Die stille Magie des Tals möchte Keller um jeden Preis bewahren. Zwar findet man seine Hostels und Wohnungen auf Google und den gängigsten Buchungsplattformen. Auch verrät er den Gästen seine Lieblingsorte, doch bittet er sie darum, diese nicht auf Instagram zu stellen oder die GPS-Daten zu teilen. «Bisher haben das alle total verstanden.» Er möchte Leute anziehen, denen die Ruhe und die Natur ebenso am Herzen liegen wie ihm selbst.

Man habe schliesslich gesehen, was mit dem Verzascatal passiert sei: Seit das Nachbartal zum Instagram-Hotspot geworden ist, wird die enge Schlucht von Touristen überrollt. Strassen sind verstopft, Einheimische genervt.

Tief in die Schlucht und hoch hinaus: Bei einer Wanderung über die Alp Salei lässt sich das Tal auch von oben bestaunen.
Foto: Lea Ernst
Das Leben im abgelegenen Onsernonetal war schon immer einfach und bescheiden. Die Region gehört zu den ärmsten im Tessin.
Foto: Lea Ernst

Keller hat viele schöne Orte gesehen, doch nur hier im Tal fühlt er sich richtig zu Hause. «Ich nenne es das Onsernone-Syndrom: Wer der Schönheit des Tals einmal erlegen ist, wird es nie mehr los.»

Hart und genügsam statt wild-romantisch

In Loco spielen zwei Mädchen Fussball auf dem Parkplatz – der einzigen geraden Fläche, abgesehen von der Strasse. Ein falscher Kick, und der Ball ist für immer verloren. Mit den Nebelschwaden kriecht der Herbst die Berge hinauf, lässt Pilze spriessen und Kastanien fallen. Es riecht nach Thymian und nach Geiss.

Wild-romantisch, sagen Touristen und Neuzuzüger über das Tal. Als hart und genügsam beschreiben die Eingeborenen das Leben in ihm. Seit jeher gehört die Region zu den ärmsten im Tessin. Oben in den Steinbrüchen wird noch immer Granit abgebaut. Landwirtschaft ist hier nur beschränkt möglich, zu unzähmbar ist die Natur. Einst war das Tal bekannt für die Strohflechterei, verkaufte Hüte und Taschen aus Roggenstroh bis nach Italien.

Die Jungen gehen, die Alten bleiben: Das Onsernonetal kämpft gegen die Abwanderung.
Foto: Lea Ernst
Mit den Nebelschwaden kriecht auch der Herbst die Hügel des Tals herauf.
Foto: Lea Ernst

Im Caffè della Posta sitzen fünf ältere Männer am Stammtisch. Die Aussicht kennen sie zur Genüge, deshalb zeigt der Sitzplatz des Restaurants in Richtung Strasse. Die Hauptschlagader des Tals, auf der sich das Leben abspielt. Früher hatte noch jeder Ort sein eigenes Restaurant und seinen Laden, heute sind es nur noch eine Handvoll. «Es ist ruhig geworden hier oben», sagt eine alte Frau beim Einkaufen.

Weinreben und Safarizelte

Hundert Höhenmeter tiefer bückt sich Andriin (39) über violette Flaschen. «Noch etwas sauer», meint er auf Schweizerdeutsch, als er einen Schluck nimmt. Sein erster eigener Traubensaft. Seit dieser Saison gehört seiner Familie das Stück Land mit den Weinreben und weiteren Wohnhäusern, die ihr Grundstück säumen. «Vielleicht geben wir den anderen Trauben noch ein, zwei Wochen.»

Als Kind verbrachte Andriin jedes Jahr mehrere Monate hier im Tal. In Spruga, dem letzten Dorf, bevor es zu Fuss über die italienische Grenze geht. Vor zehn Jahren ist er zurückgekehrt, um sich in Loco gemeinsam mit seiner Freundin, seiner Mutter und Freunden einen Traum zu verwirklichen: das Rifugio Bastonega – eine Eco-Lodge mitten in der Natur, mit Safari-, Jurten- und Domzelten, die im Lauf der Jahre entstanden ist.

Naturnaher Tourismus im Safari-Häuschen: Andriin (39) will eine Begegnungszone für naturnahe Touristen schaffen.
Foto: Lea Ernst
Knapp 700 Menschen leben heute noch im Tal.
Foto: Lea Ernst

Das Rifugio, der Unterschlupf, sei für Menschen gedacht, die ebenfalls gerne in der Natur leben, sich nach Entschleunigung sehnen, sagt er. Andriin lebte in Zürich, arbeitete als Unternehmensberater und reiste in ferne Länder. Jetzt baut er in Hochbeeten Früchte und Gemüse an, will anders leben.

«Wenn es so weitergeht, muss die Primarschule schliessen»

Andriin stapft den Hang hinunter. Von den Weinreben die steile Steintreppe hinab, über eine Wiese, dann in den dichten Wald hinein. Beim Sitzplatz mit der Holzbar bleibt er stehen. Bald gibt es Abendessen.

In den ersten Jahren sei er immer wieder nach Zürich gependelt, um dort zu arbeiten. Unterdessen ist Andriin fast immer hier. «Ich bin viel ruhiger geworden, seit ich hier lebe», sagt er. An den steilen Gegebenheiten des Tals gefällt ihm besonders, dass es immer ganz anders aussieht, je nachdem, auf welcher Höhe man sich befindet. Ein ständiger Perspektivenwechsel, den er auch in seinem Leben schätze.

Die Aussicht von Auressio nach Loco. In der Dämmerung leuchten die Berge bläulich.
Foto: Lea Ernst

Aus dem Babyphone raschelt es. Andriins einjährige Tochter ist aufgewacht. Eines der wenigen Kinder in Loco. «Wenn es so weitergeht, muss die Primarschule bald schliessen», sagt Andriin. Deshalb will er andere junge Familien dazu inspirieren, ebenfalls hierherzuziehen. Die letzten beiden Wochen hat ein Paar mit zwei kleinen Kindern in einem der neuen Häuser zur Probe gewohnt. Wenn alles klappt, ziehen sie ein.

In ihrer Anlage möchte die Familie Seminarräume zur Verfügung stellen und kulturelle Events veranstalten. Lesungen zum Beispiel. Andriin blickt in die Berge, die tagsüber grün sind, abends golden leuchten und in der Dämmerung bläulich schimmern. Viele Künstlerinnen und Künstler haben sich bereits von ihnen inspirieren lassen: Schriftsteller wie Max Frisch oder Alfred Andersch wohnten teilweise im Onsernonetal.

Fehlende Baubewilligungen

Letzten Sommer feierte Andriin mit Familie und Freunden Eröffnung. «Die Saison lief sehr gut, und das fast ohne Werbung», sagt er. Doch mittlerweile musste er das Rifugio Bastonega wieder schliessen. Das Problem: fehlende Baubewilligungen. Bereits vor fünf Jahren habe er ein Konzept eingereicht, das grossen Anklang gefunden habe, klagt Andriin.

Zwei Esel grasen auf dem Wanderweg von Spruga nach Comologno.
Foto: Lea Ernst
Viele der Rustici, der typischen Tessiner Häuser aus Stein, sind heute zerfallen.
Foto: Lea Ernst

Aus Andriins Sicht ist Innovation ausserhalb der Bauzone schwer, auch das Schweizer Baugesetz sei entwicklungsbedürftig. Dabei will er Arbeitsplätze schaffen und Leben ins Tal bringen. «Ausserdem wollen wir ja gerade respektvoll mit der Natur leben, sie nicht verbauen.»

Die Familie hofft, bald wieder Besucherinnen und Besucher begrüssen zu können. Langsam verschwindet die Abendsonne hinter den Baumwipfeln. Die Dörfer sind der Sonne nach ausgerichtet, jeweils an den Stellen, die am längsten Sonne haben. Im Notfall müsse sich die Familie wohl oder übel etwas anderes überlegen. Andriin sagt: «Dabei wollen wir hier wirklich etwas zum Positiven verändern und gemeinsam mit den Behörden neue Modelle entwickeln.»

Ausflugstipps zum Onsernonetal

Die Bäder von Craveggia
28 Grad warme Thermalquellen inmitten der Schlucht – die Bäder von Craveggia befinden sich an der Grenze zwischen der Schweiz und Italien. Zu Fuss sind die beiden Granitwannen von Spruga aus in einer halben Stunde zu erreichen. Der Eintritt ist frei.

Der Alpsee auf der Alp Salei
Über dem Tal geht es hoch hinaus: Inmitten der Alpen liegt der kleine Bergsee Salei. Beim Abstieg nach Spruga lässt sich das Onsernonetal von oben bewundern. Mit der Seilbahn Zott in Vergeletto ist die Alp Salei in wenigen Minuten zu erreichen.

Die alte Mühle in Loco
Polentamehl, eine alte Spezialität des Onsernonetals: Seit 1991 wird in einer Mühle aus dem 18. Jahrhundert wieder Farina Bóna gemahlen. Wie früher! Rund 27 Mühlen waren damals im Tal in Betrieb. Die Mühle von Loco ist von April bis Oktober geöffnet. Der Eintritt ist frei, die Mühle finanziert sich durch die Spenden der Besucherinnen und Besucher.

Die Bäder von Craveggia
28 Grad warme Thermalquellen inmitten der Schlucht – die Bäder von Craveggia befinden sich an der Grenze zwischen der Schweiz und Italien. Zu Fuss sind die beiden Granitwannen von Spruga aus in einer halben Stunde zu erreichen. Der Eintritt ist frei.

Der Alpsee auf der Alp Salei
Über dem Tal geht es hoch hinaus: Inmitten der Alpen liegt der kleine Bergsee Salei. Beim Abstieg nach Spruga lässt sich das Onsernonetal von oben bewundern. Mit der Seilbahn Zott in Vergeletto ist die Alp Salei in wenigen Minuten zu erreichen.

Die alte Mühle in Loco
Polentamehl, eine alte Spezialität des Onsernonetals: Seit 1991 wird in einer Mühle aus dem 18. Jahrhundert wieder Farina Bóna gemahlen. Wie früher! Rund 27 Mühlen waren damals im Tal in Betrieb. Die Mühle von Loco ist von April bis Oktober geöffnet. Der Eintritt ist frei, die Mühle finanziert sich durch die Spenden der Besucherinnen und Besucher.

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