Er war einer der tödlichsten Erreger überhaupt. Ungezählte Millionen fielen dem Pockenvirus zum Opfer. Neben den Auslösern der Pest zählten die unsichtbaren Killer zu den brutalsten. Über Jahrtausende hinweg wütete die Seuche nahezu ungehindert. Noch im 20. Jahrhundert forderten die Pocken weltweit fast 300 Millionen Tote.
Die Bilder von Sterbenden, die mit eitrigen Pusteln übersät waren, sind aus unserem Gedächtnis verschwunden. Denn: 1980 war der Pockenerreger durch systematische Impfkampagnen ausgerottet. Ein grosser Sieg für Medizin und Menschheit.
Mit dem Coronavirus kehrte die Angst vor globalen Todeswellen zurück.
«Unsere Gesellschaft wiegte sich in einer trügerischen Sicherheit», konstatiert der Medizinhistoriker Hubert Steinke (54) von der Universität Bern. «Wir vergessen nur allzu schnell, wie lange wir gebraucht haben, die alten Seuchen zu besiegen. Es schockiert uns, wenn neue Pandemien wie Corona dann plötzlich unser Leben dominieren.»
Steinke spricht sogar von einer Rückkehr der Seuchen: «Insbesondere die gestiegene Mobilität von Menschen, das rasante Bevölkerungswachstum, die Urbanisierung und die fortschreitende Zerstörung der Umwelt, haben die geografische Verbreitung begünstigt.» Zugleich habe sich auch die Produktion von Vakzinen stark beschleunigt.
Lange Zeit galten Infektionskrankheiten als unheilbare Strafe Gottes; sie führten zu grossen wirtschaftlichen und geopolitischen Umwälzungen.
Impfen, eine Erfolgsgeschichte
Mit der Erfindung von Impfstoffen wurden auch todbringende Kinderkrankheiten wie Keuchhusten, Diphterie oder Kinderlähmung zurückgedrängt; sie kommen heute bei uns kaum noch vor. «Die Impfstoffentwicklung ist eine Erfolgsgeschichte», hält Steinke fest. «Ohne Vakzine und die damit verbundene Professionalisierung der Seuchenbekämpfung hätte sich Europa nie so stark entwickelt.»
Dass die Pocken endgültig besiegt sind, geht auf ein heute undenkbares Menschenexperiment zurück. Es ist der 1. Juli 1796 in der Stadt Berkeley im Westen Englands, als der Landarzt Edward Jenner den achtjährigen James Phipps mit einem scharfen Messer am linken Oberarm ritzt und ihm den Eiter einer von Kuhpocken infizierten Melkerin in die Wunde reibt.
Jenner war im ländlichen Gloucestershire aufgewachsen, wo er bemerkte, dass Melkerinnen, die sich mit Kuhpocken angesteckt hatten, kaum je an Menschenpocken erkrankten. Wochen später infizierte Jenner den Buben abermals, nun aber mit Menschenpocken. Glücklicherweise war der kleine James immun geworden.
Es war der Beginn des modernen Impfens oder der Vakzination, abgeleitet vom lateinischen Wort für Kuh: Vacca. Bald führten viele Länder die Pflicht zur Pockenschutzimpfung ein. Die Schweiz beendete die Impfungen 1972, der letzte Erkrankungsfall war 1963 gemeldet worden.
Im 19. und 20. Jahrhundert wurde das Arsenal zur Bekämpfung der Seuchen entscheidend erweitert. Dem französischen Chemiker Louis Pasteur gelang es, einen Impfstoff gegen Hühnercholera und kurze Zeit später auch gegen Milzbrand zu entwickeln.
Pasteur war es auch, der 1885 einen mit Tollwut infizierten Patienten durch eine erfolgreiche Impfintervention heilte.
In den 1950er-Jahren isolierte der US-amerikanische Physiker Thomas C. Peebles erstmals das Masernvirus. Seit 1963 steht ein wirksamer Impfstoff zur Verfügung. «Von 2000 bis 2016 verhinderte die Impfung gemäss Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation international über 20 Millionen Todesfälle», sagt Medizinhistoriker Steinke. Und mit der Entdeckung eines Impfstoffs gegen Kinderlähmung trug der US-amerikanische Immunologe Jonas Salk ab 1955 dazu bei, dass die gefürchtete Krankheit, auch Polio genannt, eingedämmt werden konnte.
Rückschläge in der Vergangenheit
Nicht immer verliefen Impfungen gut. «Unerwünschte Nebenwirkungen sind genauso Teil der Impfgeschichte, wie die erfolgreiche Eliminierung von Krankheiten», erinnert Steinke. 1930 wurden in einem Lübecker Krankenhaus 256 Neugeborene gegen Tuberkulose geimpft. 77 Kinder starben, 131 erkrankten an Tuberkulose. Grund: der Impfstamm war verunreinigt.
Einen weiteren Rückschlag erlitt das Impfen in Europa und in den USA 1998, als die angesehene britische Ärztezeitung «The Lancet» einen Artikel des Gastroenterologen Andrew Wakefield veröffentlichte. Er behauptete, einen Zusammenhang zwischen der Verabreichung des MMR-Impfstoffs gegen Masern, Mumps und Röteln und Autismus sowie Darmerkrankung bei Kindern gefunden zu haben.
«Seine Behauptungen wurden zwar widerlegt, aber die Auswirkungen seiner Veröffentlichung sind bis heute zu spüren», sagt Historiker Steinke. «Die Mär davon, dass die Impfung in Zusammenhang mit Autismus steht, hält sich bei der Impfgegnerschaft hartnäckig.»
Fatale Fehltritte in der Medizin und falsche Behauptungen haben seit der Erfindung des Immunisierungsverfahrens immer wieder Impfgegner auf den Plan gerufen. Das zeigt auch ein aktuelles Beispiel: Knapp eine Woche nach dem Start der Corona-Impfung sorgte dieser Tage die Nachricht vom ersten Todesfall in Luzern für Schlagzeilen.
Gefährliche Halbwahrheiten
Die Impfung habe nun das erste Todesopfer gefordert, behaupteten Corona-Skeptiker in den sozialen Medien. Die Schweizer Heilmittelbehörde Swissmedic stellte klar, es sei kein Zusammenhang mit der Immunsierung ersichtlich.
«Solche Meldungen befeuern die Impfkritik und verunsichern die Menschen», hält Steinke fest. «Im Unterschied zu früheren Kritiken argumentieren die Impfgegner heute pseudowissenschaftlicher. Sie basteln sich aus allerlei Informationen im Netz ein Gemisch von wahren, halbwahren und falschen Aussagen zusammen.»
Diese Form der Impfkritik sei ein neues, sehr gefährliches Phänomen, auf das man mit transparenter Information reagieren müsse. «Wenn Millionen von Menschen geimpft werden», sagt der Medizinhistoriker, «dann werden während dieser Zeit auch Menschen eines natürliches Todes sterben.»
So wie jeden Tag. Das Impfen, das zeigt die Geschichte, trägt daran keine Schuld.