Eva Vandenbroucks (87) Kindheit endete mit fünf. Damals begann in ihrer Heimat Slowenien der Zweite Weltkrieg. Statt in den Kindergarten und die Schule zu gehen, lernte sie, sich flach auf den Boden zu legen, wenn Kampfflugzeuge nah über ihre Köpfen flogen. Und kurz danach aufzustehen und zwischen leblosen Körpern weiterzurennen.
Sie war sieben, als slowenische Freiheitskämpfer sie zusammen mit ihrer Mutter, der Schwester und dem kleinen Bruder in den Wald entführten, und ihnen drohten, sie zu erschiessen, weil sich der Vater der Deutschen Wehrmacht angeschlossen hatte. Sie kann sich noch genau erinnern, wie sie bei einem Abhang standen, der Bruder und die Schwester weinten, und sie war ganz still. Sie habe gedacht: Wenn sie schiessen, dann purzel ich runter und renne weg.
Das war vor achtzig Jahren. Heute sitzt Eva Vandenbrouck in ihrer Wohnung in Jona SG vor dem Fernseher, und vor ihr flimmern Kriegsbilder aus der Ukraine. Sie schaut die «Tagesschau», aber dann muss sie den Fernseher ausschalten. Sie erträgt es nicht: «Jetzt kommt alles wieder hoch.» Erinnerungen an die Flieger, die Schüsse, den Hunger.
«Das Schlimmste finde ich, wenn ich sehe, wie Flüchtlinge in der Kälte zu Fuss gehen. Ich musste das auch», sagt sie. Mit ihrer Mutter flüchtete sie immer zwischen der Heimatstadt Pettau und einem Dorf ausserhalb hin und her, je nachdem, wo die Lage sicherer schien. Auf diesem Fluchtweg wurde ihre Mutter 1944 angeschossen, später starb sie im Spital an Typhus.
Krieg ist für Menschen eine Erfahrung der fundamentalen Verunsicherung. Sie fühlen sich ausgeliefert, haben keine Kontrolle mehr über ihr Leben. Viele verlieren ihnen liebe Menschen, ihr Zuhause, ihren Alltag. Das sind Erfahrungen, die Traumata auslösen können.
Der Ukraine-Krieg lässt schlecht verheilte Wunden aufbrechen
Naser Morina (44) hilft Geflüchteten als Psychotherapeut seit 2008 im Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer in Zürich, solche Traumata zu verarbeiten. Er weiss: Der Ukraine-Krieg lässt Wunden wieder aufbrechen. «Das Hirn funktioniert wie ein Netzwerk, und wenn ähnliche Bilder auftauchen, reaktiviert das frühere Erlebnisse.»
Das erlebt zurzeit auch Bergita (37), die 1999 mit ihrer Familie in einem Dorf im Süden des Kosovos ausharrte, während in der Nähe Bomben explodierten. Die Bilder auf ihrem grossen Fernsehen in einer Wohnung in der Ostschweiz vermischten sich in ihrem Kopf mit Erinnerungen aus dem Kosovo-Krieg, sagt sie. Sie schläft zurzeit schlecht, hat weniger Energie für ihre zwei Kinder. «Es tut mir weh, wieso müssen noch mehr Leute das Gleiche erleben?»
Traumatisierte hätten den Raum des Schrecks nie verlassen, sagt der Psychotherapeut Morina. Sie sollten versuchen, sich bewusst zu machen, dass sie im Hier und Jetzt in der sicheren Schweiz sind, sagt er. Und die Nachrichten aus der Ukraine bewusst sparsam konsumieren.
Wann endet ein Krieg? In Geschichtsbüchern stehen Daten, doch für die meisten Menschen, die ihn erlebten, geht er weiter. Bergita spricht bis heute mit ihrer Familie, wenn sie sich im Sommer im Kosovo treffen, über die Angst vor den serbischen Soldaten und den Bomben der Nato. «Das tut gut, man sollte das nicht in sich drin vergraben», sagt sie.
Die Hälfte der Geflüchteten in der Schweiz ist traumatisiert
Auch Eva Vandenbrouck wollte ihrem Vater Fragen über den Krieg stellen, als er sie und ihre Geschwister über einen Suchdienst des Roten Kreuzes fand und 1951 zu sich nach Deutschland holte. «Ich hätte so viel wissen wollen», sagt sie. Doch das Thema war Tabu.
In Deutschland hätten in der Nachkriegszeit viele die Erfahrungen verdrängt, vielleicht aus Schuld und Scham, sagt Naser Morina. Man spreche dann von einem kollektiven Trauma. Die Psychotraumatologie ist eine Wissenschaft, die sich erst ab den 1970er-Jahren zu entwickeln begann.
Morina schätzt, dass etwa die Hälfte der Geflüchteten in der Schweiz traumatisiert sind, und rund ein Drittel eine Therapie bräuchten. Zu ihnen gehören zum Beispiel Überlebende der Balkankriege, oder Menschen aus Syrien. Bei den Ukrainern werde die Zahl tiefer ausfallen, denkt Morina. Denn durch den neu aktivierten Aufenthaltsstatus S dürfen sie rasch arbeiten, und die grosse Solidarität helfe den Menschen, sich schnell zu integrieren.
Heute wisse man, dass es besonders wichtig sei, den geflüchteten Menschen möglichst rasch das Gefühl zu geben, für sich selber zu sorgen, sagt Morina. Damit sie eine sogenannte Selbstwirksamkeit erleben, also das Gegenteil der Hilflosigkeit und des Kontrollverlustes während des Kriegs.
Rund vier Wochen kann es dauern, bis sich der Körper und die Psyche nach einem traumatischen Erlebnis erholen. «Im Moment braucht es mich als Psychotraumatologe nicht», sagt Morina bezogen auf Geflüchtete aus der Ukraine. Erst danach sei professionelle Hilfe sinnvoll. Allerdings fehlt es an Angeboten, bei ihm beträgt die Wartefrist zurzeit rund ein Jahr.
Für Vandenbrouck gab es damals keine psychologischen Hilfsangebote. Sie kämpfte sich einige Jahre in Deutschland durch und nahm ihr Leben dann als 21-Jährige selbst in die Hand: 1955 reiste sie auf der Suche nach Arbeit in die Schweiz – gegen den Willen des Vaters. Er machte deutlich, dass sie nie wieder zurückkommen dürfe. In der Schweiz half sie jahrelang als Hausangestellte, putzte in Spitälern, später war sie mit ihrem Ehemann gemeinsam Hauswartin. Sie sagt: «Ich hatte kein schönes Leben, bis ich in die Schweiz gekommen bin.»
Zwei Geflüchtete Frauen erzählen über Angst und Hoffnung
«Die Angst vor dem Krieg ist schwieriger als der Krieg selbst»
Roksan Kasem (34) flüchtete zu Beginn des Syrienkriegs zuerst in den Irak, später bestieg sie mit ihrem Mann und den damals 6-jährigen Zwillingen ein Boot, das sie über das Mittelmeer brachte. Die Zeit nach der Ankunft in der Schweiz war schwierig, als sie im Asylheim auf die Bewilligung wartete. «Man kann nichts tun und nirgendwo hin. Ich schlief schlecht und hatte oft Alpträume», sagt sie. Ihr half, mit anderen über ihre Angst zu sprechen. Und sich zu beschäftigen: Musik hören, kochen, Kontakte knüpfen. Langsam wurden die Alpträume weniger.
Nun macht sie eine Ausbildung zur Sozialbegleiterin und engagiert sich bei einem Integrationsprojekt, das Geflüchteten hilft, sich in der Schweiz zurechtzufinden. Ihnen rät sie: «Am wichtigsten ist es, Hoffnungen und Ziele zu haben».
Zusätzlich zu den Bildern aus der Ukraine belastet sie die Situation in Syrien. Ihre Eltern leben in al-Hasaka. Dort brachen im Februar Kämpfe der Terrormiliz IS aus. Bis tief in die Nacht telefonierte sie mit ihrer Mutter. «Ich fühle mich als starke Frau, aber in so einem Moment nützt das nichts. Die Angst vor dem Krieg ist schwieriger als der Krieg selbst.»
«Ich habe durch den Krieg gelernt, die Hoffnung nie aufzugeben»
Es dauerte viele Jahre, bis Bergita (37) keine Angst vor Polizisten mehr hatte. Jedes Mal, wenn sie Uniformierte mit Waffen sah, egal ob in der Schweiz oder im Kosovo, habe sie gezittert und ihr Gesicht sei rot geworden, erzählt sie. Zuerst konnte sie die Reaktion nicht einordnen, doch dann merkte sie: Das ist wegen früher.
Und nun holt die Vergangenheit sie erneut ein. Die Bilder aus der Ukraine erinnern sie daran, wie die Polizei ihren Vater wenige Monate vor dem Krieg verhaftete. Sie verdächtigten ihn, er sei ein Kämpfer einer albanischen Miliz. «Ich dachte, ich sähe ihn nie wieder», sagt sie, und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Doch am nächsten Tag liess die Polizei den Vater frei.
Bergita, die 2007 in die Schweiz kam, harrte die Monate der Bombardierungen mit ihrer Familie im kleinen Heimatdorf im Süden des Kosovos aus. Im Eingang standen immer die gepackten Taschen. Bergita wusste noch, dass sie nebst den Kleidern auch ein Buch mitnehmen wollte, damit sie etwas gehabt hätte, das sie ablenkte. Sie glaubte jede Nacht, es wäre ihre Letzte. «Ich habe durch den Krieg gelernt, die Hoffnung nie aufzugeben», sagt sie.