Lili N.* (35) ist Ostschweizerin, hat ein breites Lachen und meistens gute Laune. Manchmal geht das nicht ganz ohne Nebengeräusche ab. Wie an jenem Abend im Lockdown, als sie zu Hause in Zürich Gäste bewirtete. «Ohne Musik, vielleicht lachten wir etwas laut», erinnert sie sich.
Eine Stunde vor Mitternacht klingelte es an der Wohnungstür. Der späte Gast war ein Polizist. Nuschelnd habe der Mann gefragt, ob er eintreten dürfe, und als er dann in der Wohnung stand, neugierig in die Zimmer gespäht.
N: «Er kontrollierte, wie viele wir sind, ob wir die Corona-Regeln einhalten.»
Es sei reklamiert worden, habe der Polizist seinen Überraschungsbesuch schliesslich erklärt. «Jemand dachte wohl, wir feierten eine Party und hat uns angeschwärzt», folgerte N. Wer sie denunzierte, ist bis heute nebulös – jedenfalls muss irgendwer dem Ordnungshüter diskret die Eingangstüre zum Haus geöffnet haben ...
Handelte die Polizei legal?
Weil es nichts weiter zu beanstanden gab, verabschiedete sich der Freund und Helfer bald. Lili N: «Im Nachhinein rätselten wir, ob das Betreten der Wohnung eigentlich legal war.»
Am Freitag empfahl Bundesrat Alain Berset (47) «nachdrücklich», private Treffen auf maximal zwei Haushalte zu beschränken. Die Landesregierung schreibt dies allerdings zunächst nicht vor. Dafür steht neu das Adventssingen auf dem Index. Die nächste Verschärfung könnte bereits kommenden Freitag verkündet werden, je nach Fieberkurve der Ansteckungsrate.
Was genau an Weihnachten erlaubt sein wird, darüber kann heute nur orakelt werden. Schärfere Massnahmen würden die Festtagsplanung zu einem Teufelsritt machen: Die Schwiegereltern einladen? Oder eben endlich nicht mehr? Und was tun, wenn der seltsame Onkel doch noch spontan hereinschneit?
Während Herr und Frau Schweizer über Gebote und Verbote der Adventszeit rätseln, verfolgt einer alles haarklein aus der Deckung. Zunächst beobachtet der Denunziant in aller Stille, was sich da so tut. Und dann macht er Meldung.
Das Comeback des Denunzianten
Kaum ein Mitbürger ist so unbeliebt wie er – historisch durchaus gerechtfertigt. Die Pandemie jedoch verhilft dem Schmuddelkind der Geschichte zum Comeback. Im Krisenjahr platzierten Hilfssheriffs bei den Behörden Tausende Meldungen wegen angeblicher Corona-Verstösse.
Leute anzuschwärzen, ist ein alter Zeitvertreib. In der Republik Venedig gab es dafür eigens Briefkästen. Noch übler als das Aussehen dieser «Löwenmäuler» waren nur noch die Folgen, wenn ein Zettelchen mit dem eigenen Namen in diesem ominösen Kasten landete. Giordano Bruno (1548–1600), Philosoph und Alchemist, endete nach einer solchen Denunziation sogar auf dem Scheiterhaufen: «Mit grösserer Furcht verkündet ihr vielleicht das Urteil, als ich es entgegennehme», rief der Ketzer seinen Inquisitoren noch trotzig zu, ehe sie ihn vorsichtshalber lieber auch noch knebeln liessen, um weitere Unbotmässigkeiten zu unterbinden. Denunziert worden war Bruno von seinem Gastgeber, der ihn dazu eigens aus dem Exil zurück nach Venedig gelockt hatte.
Eine weniger tödliche, dafür umso digitalere Variante des Petzens wurde dieser Tage aus Deutschland gemeldet. Die Stadt Essen schaltete im Frühjahr ein Formular online, auf dem Ort, Datum und Art des Corona-Verstosses eingetragen werden können. Die Massnahme wurde zum Politikum. Es hagelte Vergleiche mit dem Dritten Reich und der DDR, beides schreckliche Tummelplätze des Denunziantentums.
Persönliche Diffamierungen
Hierzulande unterhält bislang keine Gemeinde vergleichbare Onlineangebote – es sei denn, die von SonntagsBlick angefragten Kantone wissen noch nichts davon. Deren schizophrene Haltung: Kein Bürger soll denunzieren, Hinweisen wird aber gerne nachgegangen. Viele Meldungen würden sich dann aber «bei genauer Prüfung nicht erhärten», heisst es etwa aus Schaffhausen: «Teilweise handelt es sich auch um persönliche Diffamierungen.» Dennoch hat die Schaffhauser Regierung am Freitag, als erste überhaupt, die Zwei-Haushalte-Regel eingeführt. Es dürfte künftig wohl nicht weniger dieser unappetitlichen Meldungen zu bearbeiten geben.
Eine nicht ganz unbekannte Schweizer Behörde setzt seit Jahren auf die Kraft anonymer Zuträger: die Eidgenössische Finanzkontrolle (EFK). Die Berner Buchhalter-Truppe ist bei näherer Betrachtung weniger brav als vielmehr ziemlich schlagkräftig. In der Bundesverwaltung jedenfalls hat sie nur wenige Freunde. Denn dort dürfen sie fast alles und jeden kontrollieren. Ihre verheerendste Waffe: ein Onlineformular für Whistleblower. «Dabei sind keine Beweise vorzulegen. Jede Person kann anonym und absolut sicher Meldung erstatten», bewirbt die EFK ihre Dienste.
Und weil bei den Corona-Hilfsgeldern, die eigentlich für krisengebeutelte Unternehmer gedacht wären, tüchtig gemauschelt wurde, richten die Finanzkontrolleure nun ihre interne Waffe nach aussen. Nun meldeten sich bei ihnen «deutlich mehr» Normalbürger. Rund 280 Verdachtsfällen und mehr als 145 Millionen Franken jagen die Berner Buchhaltungsbeamten derzeit nach: «Meldungen über Missbrauch von öffentlichem Geld zeigen eine ethische Reaktion der Gesellschaft und haben eine sehr wichtige präventive Wirkung.»
Der «grösster Schuft im ganzen Land» als Stütze
Auswüchse eines Überwachungsstaats? Man könnte auch sagen: Wenn es um Leben und Tod geht, müssen Regierungen ihre Gesetze und Verordnungen auch durchsetzen dürfen. Im Windschatten dieser Überlegung indes mausert sich auch der Denunziant, als «grösster Schuft im ganzen Land» verschrien, heimlich zur Stütze der Gesellschaft.
«Wir brauchen Denunzianten, weil sie die sozialen Normen aufrecht erhalten», sagt Katja Rost (44), Soziologin an der Universität Zürich. Wenn sich nicht alle an diese Normen hielten, zerfalle das Gemeinschaftsgut. Rost: «Nicht die Sanktionierung, sondern allein deren Androhung hindert die meisten von uns, Grauzonen überhaupt zu betreten. Und darüber wacht der Denunziant.» Was selbstredend negative Auswirkungen haben könne.
Auch vor Corona sei dieser Typus hierzulande bereits grossflächig aktiv gewesen, so die Soziologin, die auch nationale Unterschiede ausmacht: «In der Schweiz ist der Zettelschreiber verbreitet, dem Deutschen gilt das als feige, der geht die Person direkt an.»
So deutlich wie Stephan Weil allerdings hat hierzulande noch kein Politiker gewagt, zum Petzen aufzurufen. Der Ministerpräsident des norddeutschen Bundeslandes Niedersachsen: «Es geht um unser aller Gesundheit. Und da können wir eine solche Mithilfe durchaus gut gebrauchen.»
* Name bekannt