Debatte über Raubgüter in der Schweiz
Ein Zürcher Museum durchleuchtet seine Sammlung

Die Schweiz diskutiert über den Umgang mit Raubgütern. Und über Provenienzforschung. Jetzt geht ein Zürcher Museum mit einer nicht so einfachen Sammlung in die Offensive: das Museum Rietberg mit der Ausstellung «Wege der Kunst».
Publiziert: 24.07.2022 um 16:37 Uhr
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Die Ausstellung «Wege der Kunst» im Museum Rietberg in Zürich legt zum ersten Mal die Herkunftsangaben zu den Ausstellungsstücken offen.
Foto: Thomas Meier
Rebecca Wyss

Die Lippen zum Kussmund geformt, die Nase klein und filigran, die Schultern rundlich – die Frauenfigur wirkt perfekt. Wären da nicht die abgewetzten Brustspitzen und einige abgenagte Stellen im Holz, die verraten: Diese «Tugubele» ging durch viele Hände. War einst begehrt. Gehörte vielleicht einem Schamanen, der mit ihrer Hilfe Buschgeister rief und die Zukunft weissagte. Vielleicht einem Dorfältesten, dem sie als Glücksbringer diente. Vielleicht. Fest steht nur, dass sie von weit herkommt – von der Elfenbeinküste. Und wer sie vor ungefähr 70 Jahren in die Schweiz schaffte: Emil Storrer (1917–1989). Zürcher Sammler, Händler und Profiteur des europäischen Kolonialismus in Afrika.

Das weiss die Frau, die vor der Holzfigur steht und die seit 14 Jahren im Museum Rietberg für die Herkunftsforschung, die Provenienz, zuständig ist: Esther Tisa. In einem Rock aus gelb-schwarzem afrikanischem Stoff führt sie durch die Ausstellung «Wege der Kunst». Nun steht sie vor der ersten Vitrine in der Villa und sagt: «Uns geht es um Geschichte und Transparenz.» Und darum, den Boden für den Umgang mit Restitutionsforderungen zu legen.

Das heisst etwas. Das Museum Rietberg ist das einzige Kunstmuseum für aussereuropäische Kulturen in der Schweiz. Mit 25'000 Objekten und 45'000 Fotografien aus Asien, Afrika, Amerika und Ozeanien. Was dieses nun während eines Jahres zeigt, ist kühn: Zum ersten Mal sind in seinen Vitrinen nicht nur Figuren, Textilien, Masken, Statuen, Zeichnungen, Waffen zu sehen. Exponate. Wie sonst in Museen üblich. Sondern auch ganz viel Material zu deren Herkunft. Deren Weg in die Schweiz. Auf dem Parcours mit 22 Schaukästen und rund 400 Ausstellungsstücken finden sich lauter Karteikarten, Rechnungen oder Briefe mit handgeschriebenen Angaben zu Hersteller, Sammler, Händler, Preis – wo vorhanden. Die Historikerin Tisa sagt: «Wo die Herkunft unklar ist, legen wir das offen.»

Sie schreiten voran

Nicht so wie andere Museen. Die ganze Welt diskutiert derzeit über Provenienz. Jüdische Familien fordern die NS-Raubkunst ihrer Vorfahren zurück. Afrikanische Länder ihre während der Kolonialzeit abgeflossenen Kulturgüter. Restitution. Auch in der Schweiz ist vor knapp einem Jahr eine Debatte entflammt. Mit der Emil-Bührle-Ausstellung im Kunsthaus Zürich. Der Waffenfabrikant häufte durch NS-Geschäfte ein Vermögen an und kaufte damit Kunst von jüdischen Sammlern. Das Kunsthaus weist die Provenienz der Werke nun abgenabelt von diesen in einem Spezialraum aus – dort, wo sie den Kunstgenuss nicht stört.

Ganz anders das Museum Rietberg. Die Direktorin Annette Bhagwati sagt: «Wir wollen Möglichkeiten aufzeigen, wie man als Museum mit der Provenienz umgehen kann.»

Das Museum macht vor, wie es geht. Das hat auch mit Esther Tisa zu tun. Die Historikerin sass schon in der Bergier-Kommission, schaltete sich im November mit anderen Mitgliedern in die Bührle-Debatte ein: forderte, dass die Schweiz ein Gremium schafft, das über Restitutionsfragen entscheidet. Was Parlament und Bundesrat nun tun wollen.

Im Rietberg hat die Debatte konkrete Folgen. Das zeigt ein Stopp bei der Vitrine, die Benin City, dem ehemaligen Königtum in Nigeria, gewidmet ist. Und seinen Kunstwerken, wie eine Messing-Gürtelmaske, ein Elfenbeinzahn mit eingeschnitzten Figuren und ein mit Tieren und Menschen verziertes Elfenbein-Armband. Raubgüter.

Die geplünderte Stadt

1897 steckten bewaffnete britische Truppen die halbe Stadt in Brand, entmachteten den König, den Oba, zerstörten seinen Palast. Sie steckten sich in die Taschen, was sie konnten, verkauften Tausende von Objekten nach Europa. Dort wurden sie zu Ikonen afrikanischer Kunst. Waren wegen der besonderen Ästhetik und Meisterschaft der Gelbgussarbeiten – ein spezielles Gussverfahren für Metalllegierungen – gefragt.

Hundert Stücke aus Benin City befinden sich heute in Schweizer Museen, achtzehn davon im Museum Rietberg. Sie haben sich zur «Benin Initiative Schweiz» zusammengeschlossen. Klären nun unter anderem mit einer nigerianischen Forscherin vor Ort kritische Fragen: Welche Objekte die Briten vor 125 Jahren raubten, welche später nach Europa kamen und wer die Güter, wann, wie und zu welchem Zweck gefertigt hat. Das Ziel: Gemeinsam eine Lösung mit Nigeria finden. Ob die Kunstwerke im Museum bleiben oder nur die Eigentümer wechseln, ob es zu Kooperationen bei Ausstellungen oder Forschung kommen wird, ist noch offen. Zu den Raubgütern sagt Esther Tisa: «Eine Restitution bei fraglichen Stücken ist denkbar.» Die Diskussionen laufen.

Darum geht es den Ausstellungsmacherinnen: um den Dialog mit den Herkunftsländern. Und um einen Beitrag zur hiesigen Debatte. Die Schweiz habe keine Kolonien gehabt, sagt Tisa, sei aber am kolonialen Kunsthandel beteiligt gewesen. «Wir blicken hier auf die Historie von uns allen.» Die Schaukästen erzählen die Geschichten hinter den Objekten, Geschichten auch von Schweizer Sammlern. Mit düsteren Kapiteln wie jenem zu Emil Storrer. Und zur Verstrickung des Museums mit dessen Treiben.

Ein Zürcher auf Einkaufstour in Afrika

Storrer war ein Profiteur. Im letzten Jahrhundert tobte in der Elfenbeinküste ein Bildersturm. Ganze Dörfer wechselten den Glauben, warfen ihre Heiligtümer auf den Müll. Als Folge des Kolonialismus. Katholische Missionare sammelten die Güter, verkauften sie an Kunsthändler wie Storrer. Dieser hatte sich ein Netzwerk von Einheimischen, Geistlichen und Kolonialverwaltungsangestellten geschaffen, die ihm zudienten. Oft genug reiste er selber in afrikanische Dörfer, um den Ältesten Skulpturen, Masken oder Schalen für einen guten Preis abzukaufen. Einmal begleitet von der ehemaligen Rietberg-Direktorin Elsy Leuzinger (1910–2010). Diese schrieb in einem Brief:

«In einem Bauledorf, wo wir gar zu viele Götzli wegtragen wollten, wurden wir mit schwarzer Magie bedroht (...) dem gefährlichen Giftpfeil entronnen, mussten wir einsehen, dass die so furchtbar netten und flotten N***** keine Gnade kennen, wenn man an ihren Geheimnissen rührt.»

Storrer sass über Jahre in der Anschaffungskommission des Museums, hielt ihm 130 Werke zu.

Das alles ist in den Ausstellungsunterlagen nachlesbar. Die Message ist klar: Man will hinschauen. Und auch die Besucherinnen und Besucher dazu ermutigen.

Wege der Kunst. Bis 23. Juni 2023. Museum Rietberg, Gablerstrasse 15, 8002 Zürich.

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