Frau Gretler Heusser, in St.Gallen kam es zum zweiten Mal in Folge zu einer massiven Konfrontation zwischen Jugendlichen und der Polizei. Was ist los mit den Jungen?
Simone Gretler Heusser: Gerade junge Erwachsene leiden aus verschiedenen Gründen stark unter der aktuellen Situation. Es ist fast unmöglich, Lehrstellen- oder Praktikumsplätze zu finden. Und viele Jugendliche, die kürzlich die Lehre abgeschlossen haben, kommen nun nicht weiter – denken Sie zum Beispiel an junge Köche, die nicht arbeiten können, weil die Restaurants geschlossen sind. Das ist sehr belastend. Aber das ist nicht alles.
Was kommt da noch hinzu?
Viele Jugendliche leiden auch unter grossem psychischen Druck – jugendpsychiatrische Behandlungen haben stark zugenommen. Das Problem ist, dass wir in diesem Bereich unterversorgt sind – viele, die Hilfe bräuchten, müssen lange darauf warten. Und dann gibt es auch viele Jugendliche, die generell Zukunftsängste haben. Sie sorgen sich um den Planeten, beobachten die Folgen der Globalisierung und Zustände wie die Massentierhaltung mit Sorge. Die Pandemie hängt damit zusammen und verstärkt solche Ängste nur noch.
Den Jugendlichen in St. Gallen ging es doch aber vor allem um Party ...
Ja, sie sind frustriert, dass sie sich nicht treffen können. Das ist verständlich. In der Jugend ist es sehr wichtig, rauszugehen und Gleichaltrige zu treffen. Darauf müssen die Jugendlichen jetzt schon sehr lange verzichten. Darum ist es nachvollziehbar, dass die Nerven allmählich blank liegen. Polizisten mit Steinen zu bewerfen, ist aber keine gute Reaktion.
Was muss jetzt geschehen?
Natürlich muss man diese Vorfälle ernst nehmen und darauf reagieren. Unverständnis oder absolute Härte werden aber nichts bringen. Das Allerwichtigste ist, als Gesellschaft anzuerkennen, dass die aktuelle Situation auch für Jugendliche eine riesige Belastung ist. Und dass man versucht – etwa mithilfe der Jugendarbeit –, in Beziehung mit den Jugendlichen zu bleiben, um zu verhindern, dass es zu einer Spaltung zwischen Jung und Alt oder zwischen den Jungen und der Polizei kommt. Wichtig ist auch, die jungen Menschen zu ermuntern und ihnen klarzumachen, dass es nicht für immer so sein wird wie jetzt.
Es gibt Stimmen, die bereits von einer verlorenen Generation sprechen.
Davon gehe ich nicht aus. Die meisten jungen Erwachsenen werden diese Zeit verarbeiten können. Wichtig ist, dass man auch nach der akuten Krise nachsichtig mit ihnen sein wird und sich bewusst ist, dass ihnen gewisse Erfahrungen fehlen und ihnen manches vielleicht erst einmal schwerer fallen wird.
Manche Jugendliche hängen aber bereits jetzt Verschwörungstheorien an – und haben kein Vertrauen mehr in den Staat. Ist das nicht gefährlich?
Das ist sicher ein Punkt, den man im Auge behalten muss – nicht, dass noch eine Generation von Staatsfeinden heranwächst. Umso wichtiger ist es, dass die jungen Erwachsenen spüren: «Ich bin Teil der Gesellschaft, man hört mir zu und nimmt meine Probleme wahr.» Wäre ich Politikerin, würde ich genau dort ansetzen. Damit könnte man nicht nur das politische Vertrauen der jungen Generation stärken, sondern auch weit über Corona hinaus viel Gutes bewirken.