«Versuchen, kritische Situationen zu erkennen»
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City Angels im Einsatz:«Versuchen, kritische Situationen zu erkennen»

City Angels helfen in Lugano Gestrandeten
Jetzt droht den Engeln selbst die Obdachlosigkeit

Seit acht Jahren gehen die uniformierten freiwilligen Helfer durch Luganos Innenstadt und kümmern sich um Obdachlose. Die Zahl der Gestrandeten habe sich verdreifacht, erzählen die City Angels. Blick begleitete die Truppe durch das nächtliche Lugano TI.
Publiziert: 18.12.2022 um 19:57 Uhr
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Aktualisiert: 19.12.2022 um 10:42 Uhr
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Kein seltenes Bild mehr in Lugano: Ein Obdachloser schläft auf einer Bank in der Innenstadt. Um Gestrandeten wie ihm zu helfen, gründete Giuseppe Modica (47) vor acht Jahren die Gruppe City Angels Schweiz.
Foto: zVg
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Myrte MüllerAussenreporterin News

Das Kerzenlicht des kleinen Adventskranzes bringt ein wenig Wärme in den kargen Raum. Lux (37), Edge (27), Nairobi (28), Scorpio (68) und Yoda (27) bereiten sich auf ihre Nachtschicht vor. Das Schildchen mit dem selbst gewählten Fantasienamen, die sie für ihre Arbeit auf der Strasse benutzen, hat jeder an die Brust geheftet. Das blaue Barett sitzt schräg auf dem Kopf. Die roten Bomberjacken und schwarzen Hosen sind winterfest. Die Mission der City Angels: Menschen auf der Strasse zu helfen. Ihr Revier: Lugano.

Mit der Dunkelheit ziehen auch die «Engel» durch die Strassen der Innenstadt. Unter der Weihnachtsbeleuchtung suchen die Freiwilligen nach einer anderen Realität. Sie steckt in dunklen Ecken, die überdacht sind. Unter Betontreppen und Brücken. Auf Parkbänken. In der Bahnhofshalle. Die City Angels halten Ausschau nach Ziellosen auf der Durchreise. Nach Flüchtlingen ohne Papiere. Nach Menschen, deren privates oder berufliches Scheitern sie aus der Bahn warf. Sie helfen ebenfalls Reisenden, die den letzten Zug am Abend verpassten.

So landete Karin schliesslich auf der Strasse

Gefangene dieser kalten Schattenseite war auch Karin* (64). Auf der Suche nach ihrem Sohn kam die gebürtige Ungarin vor über zwei Jahren in die Schweiz. Der Lockdown hielt sie in der Fremde fest, bis das Ersparte aufgebraucht war. «Ich habe verzweifelt eine Arbeit gesucht», sagt Karin. Vergebens. So landete sie schliesslich auf der Strasse. Im November reiste sie mit den letzten Rappen nach Lugano. Dort soll es wärmer sein, hatte sie gehört. Ihre Habe steckte in zwei Plastiktüten. Das Essen fischte sie auf dem Abfallkübel.

Einer Ladenbesitzerin fällt die traurige, blonde Frau auf. Sie ruft die City Angels. Die Helfer greifen Karin in der Nacht auf und bringen sie in einer Herberge unter. Mittlerweile hat Karin einen kleinen Job und ein eigenes Zimmer. «Die City Angels haben mein Leben gerettet», sagt sie, «sie sind meine Engel, meine Familie.»

Zahl der Obdachlosen hat sich verdreifacht

Seit drei Jahren ist Lux als City Angel unterwegs. «Als ich anfing, hatten wir vielleicht mit drei Obdachlosen im Monat zu tun. Heute sind es gut zehn. Viele von ihnen sind Frauen», erzählt die 37-Jährige. Nairobi ist gelernte Verkäuferin, selber arbeitslos und alleinerziehende Mutter. Sie weiss, wie sich Elend anfühlt. «Ich bin stolz, ein City Angel zu sein. Dass ich helfen kann, gibt mir sehr viel.» Auch Studentin Yoda ist mit Feuereifer dabei. «Ich ziehe lieber dreimal die Woche als City Angel durch die Stadt als durch die Diskotheken.»

Veteran Scorpio marschiert voran. Früher war der Pensionär im Sicherheitsdienst tätig, heute sucht er gern den Kontakt zu Jugendlichen im Ausgang. «Wenn es zu Aggressionen kommt, dann rufen wir die Polizei», sagt Scorpio. Doch meistens hätten sie einen guten Draht zu den Kids, sagt er. Das will auch gelernt sein. Wer City Angel sein will, muss einen zweitägigen Kurs mit Examen bestehen. Lehrprogramm: Nothilfe und Reanimation, Konfliktbewältigung, Teamwork, ein psychologisches Einmaleins. Die meisten City Angels beherrschen mehrere Sprachen.

Seit der Pandemie bleiben die Spenden weg

«Wir arbeiten mit der Stadt zusammen», erklärt Koordinator Giuseppe Modica (47) mit Engelsnamen Gabriel. Der kaufmännische Berater hat 2014 die Schweizer Sektion der City Angels gegründet. Die Vereinigung gibt es seit 28 Jahren schon in Italien und zählt dort 3000 Mitglieder. «In den vergangenen Jahren haben wir viele Obdachlose von der Strasse geholt. Sie werden vorerst in Herbergen untergebracht. Wenn es keinen Platz hat, dann dürfen sie auch mal bei uns auf der Couch schlafen.»

Die Couch wird es vielleicht bald nicht mehr geben. Denn den City Angels selbst droht die Obdachlosigkeit. «Wir haben immer Sponsoren gehabt, die unseren Sitz in Lugano finanzierten», erzählt der Chef-Engel. Schon während der Pandemie seien viele Spender abgesprungen. Seit dem Ukraine-Krieg, der Inflation und Energiekrise käme kaum noch Geld herein. Ein verzweifeltes Crowdfunding brachte bislang gerade 850 Franken. «Wir wissen nicht, ob wir im nächsten Jahr unsere Zentrale noch halten können», sagt Giuseppe Modica.

*Name geändert


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