In der Beiz von Renato Filisetti (69) knistert der Holzofen. Einheimische und Touristen hocken in dem kleinen Schankraum in Buseno GR. Gebannt verfolgen sie auf dem Screen ihrer Smartphones, was draussen, jenseits der gesperrten Kantonsstrasse, passiert. Seit zwei Tagen ist die Verkehrsader gesperrt und das hintere Calancatal von der Aussenwelt abgeschnitten. Betroffen sind neben Buseno auch die Bündner Dörfer Arvigo und Rossa. «Wir haben kein Festnetz, kein Fernsehen, keine Post», sagt Rosanna Giulietti (78). Gott sei Dank gehe noch das Internet, sagt die Ehefrau des Gemeindepräsidenten.
In der Nacht auf Sonntag regnet es. Kurz nach sechs Uhr knackt es auf 1050 Metern, etwa 360 Meter oberhalb der Talstrasse. Dann ertönt ein tosender Krach. Mindestens 600 Kubikmeter Fels lösen sich vom Hang, stürzen im freien Fall zunächst auf eine Gelände-Schutthalde, um dann weitere 350 Meter über die Kantonsstrasse zu rollen. Mauerwerk, Fahrbahn sowie Leitungen werden auf einer Breite von 150 Metern verschüttet. Eine Frau im Tal hatte den Rums gehört und die Feuerwehr alarmiert. Als der erste Trupp am Unglücksort eintrifft, wird schnell klar: Hier kommt niemand mehr durch.
Keine Toten, keine Verletzten
Der Regen hält an. Nebel hängt hartnäckig im Tal. Der Helikopter kann nicht zum Erkundungsflug starten. Niemand kann das Ausmass der Katastrophe am Sonntag überschauen. Werden weitere Felsstürze folgen? Wann kann die Strasse wieder geöffnet werden? Sicher ist nur: Es gibt glücklicherweise keine Toten und Verletzten.
Die Bilder erschrecken. Auf der einzigen Zufahrtsstrasse des Misoxer Tals liegen mannshohe Felsbrocken. «Wir haben noch Glück im Unglück gehabt», sagt Rosanna Giulietti, «Gott sei Dank rutschte die Erde an einem Sonntag. Wäre sie an einem Wochentag gerutscht, hätte es sicher Autofahrer auf dem Weg zur Arbeit erwischt.»
Naturkatastrophen gibt es immer wieder im Tal
An einem Tisch sitzen Maurizio Sartori (63) und seine Frau Barbara (52). Das Ehepaar lebt in Zürich. Sie haben ein Ferienhaus in Rossa GR oberhalb von Buseno. «Wir hatten schon die Hütte winterfest gemacht und wollten gerade nach Hause fahren, als wir im Radio vom Erdrutsch hörten», erzählt der Geograf. Geniessen könnten sie den Zwangsurlaub nicht. «Wir haben unsere Arbeitgeber angerufen, unsere Vorratskammern geprüft, neues Holz für den Ofen geholt», sagt Barbara Sartori, «ein mulmiges Gefühl bleibt dennoch.»
Wirt Renato Filisetti bringen die Hiobsbotschaften, die übers Handy eintreffen, nicht aus der Ruhe. «Wir haben die Beiz seit Generationen. Meine Grossmutter führte sie, dann meine Mutter. Schliesslich habe ich sie übernommen», sagt Filisetti. «Naturkatastrophen wie jene am Sonntag haben wir immer wieder mal im Tal.»
Im winzigen Dorfladen herrscht Hochbetrieb. «Die Menschen decken sich mit Lebensmitteln ein», sagt Elisabetta Daldini (54), «unser Lager ist schon leer. Was ich noch habe, steht alles in den Regalen.» Frische Produkte wie Milch, Brot, Aufschnitt, Käse würden knapp. Fehlende Medikamente seien ein Problem, so die Inhaberin des «A fa la spesa Dalvecc». Doch hier würden alle allen helfen. Und es gäbe ja noch den Helikopter.
Am Dienstagmittag begannen die Räumungsarbeiten
Der kann am Dienstagmorgen auch endlich fliegen. Um 10.30 Uhr hebt der Kantonsgeologe ab, prüft die Abbruchstelle – und gibt schliesslich Entwarnung. Ein weiterer Erdrutsch sei nicht wahrscheinlich. Die Abbruchstelle sei wohl stabil. Die Räumungsarbeiten beginnen noch am selben Tag gegen 13 Uhr. Sie werden voraussichtlich bis zum Wochenende anhalten.
Alfredo Polti (55) sitzt weiter auf heissen Kohlen. «Auch wenn die Strasse wieder teilweise befahrbar wird, weiss ich natürlich nicht, ob das auch für meine Camions gilt», sagt der Bündner Granithersteller. Sein Steinbruch befindet sich in Arvigo. Wegen des Erdrutsches ruht die Arbeit seit zwei Tagen. «Ich habe drei wichtige Mitarbeiter mit dem Helikopter einfliegen müssen», sagt Alfredo Polti weiter. Der Unternehmer steht unter Stress. «Wir müssen Material im Wert von einer halben Million Franken in die Deutschschweiz und nach Deutschland transportieren», so der Bündner. Aber auch Alfredo Polti findet am Ende zur Gelassenheit der Talbewohner zurück. «Die Natur bestimmt. Das ist halt so.»
Unterdessen krempeln die Talbewohner ihre Ärmel hoch. «Wir haben einen Krisenstab in der Gemeinde gebildet», sagt Anton Theus (73), Noch-Bürgermeister von Calanca, «so wollen wir nötige Spitex-Dienste organisieren.» Grosse Bedenken zur Versorgung der Talbewohner hat auch er nicht. «Es sind ja nur ein paar Tage. Die halten wir schon durch.»
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