Ein älterer Herr betritt die Erotikfactory beim Zürcher Lochergut und geht direkt zur Filmecke. Er nimmt eine DVD, hält sie nah vor die Augen und studiert die nackten Frauen. Dann wendet er die Hülle und liest die Rückseite. Seine Miene bleibt reglos. Mehrmals wiederholt er den Vorgang, bis ihn zwei Titel überzeugen: «Gimme a Gangbang 2» und «Sex Island 2». Er geht zur Kasse und bezahlt, trotz Gratispornos im Netz. «Ich vertraue dem Internet nicht», sagt der Mann.
Steve Temperli (57), Geschäftsführer der Erotikfactory, zeigt Verständnis: «Viele der älteren Generation wollen im Internet keine Kreditkarte hinterlegen oder irgendwelche Spuren hinterlassen. Deshalb kommen sie zu mir.»
Wegbrechende Einnahmen bei den Sexfilmen
Temperli gehört zum Inventar der Erotikbranche. Als 20-Jähriger begann er Pornos auf VHS-Kassetten zu verkaufen und verdiente gutes Geld. Dann kam das Internet und flutete den Markt. «Der Verkauf von Sex-DVDs fiel ins Bodenlose. Ich mache das nur noch meinen Stammkunden zuliebe. Allerdings auch nicht mehr allzu lange.» Er findet das nicht nur finanziell bedauerlich, sondern auch ethisch: «Bei den DVD-Produktionen weiss ich, wer dahintersteckt. Bei den Videos im Netz blickt niemand durch.»
Die Entwicklung lässt sich nicht aufhalten. Und das trifft gewisse Firmen hart. 2017 musste das Unternehmen Erotik-Markt 6 von 14 Filialen in der Schweiz schliessen. Auch Beate Uhse, einst grösster Erotikkonzern Europas, schlitterte in die Insolvenz. Beide Firmen beklagten wegbrechende Einnahmen durch Sexfilme. Doch das war nicht der einzige Grund. Die Läden von Beate Uhse galten als schmuddelig. Das Image schreckte die Kundschaft ab.
Mit Corona begann der Boom der Online-Händler
Steve Temperli möchte dieser Wahrnehmung gezielt entgegenwirken. Er installierte helles Licht und strich die Wände weiss statt rot-schwarz. Sein Geschäft ähnelt einer Drogerie, was Hygiene und Gesundheit suggerieren soll. Zudem hat er das Kerngeschäft auf Sextoys umgestellt. Seither füllen vor allem Vibratoren die Kassen. Die kommen in allen Formen, Farben und Grössen daher. Und ähneln dem männlichen Glied möglichst wenig. Denn: Hyperrealistische Modelle verkaufen sich schlechter. Doch die Frage bleibt: Warum soll man dafür in den Laden? Online ist alles erhältlich – diskret und ohne Scham.
Anfang Corona kaufte die Schweiz per Mausklick. Der Onlinehändler Amorana vermeldete 2020 einen Anstieg um 78 Prozent. Aber bereits im Folgejahr flaute der Trend ab. Die Verkaufszahlen lagen nurmehr vier Prozent höher. Von einer ähnlichen Entwicklung spricht die Konkurrenz Magic X. Beide Firmen begründen das bescheidene Wachstum gleich: Corona trieb die Digitalisierung voran, konnte aber die Läden nicht verdrängen. Noch schätzen viele den Einkauf vor Ort.
«Ich will ein Prostata-Massagegerät»
In Zürich tritt ein weiterer Kunde in die Erotikfactory. Besitzer Temperli geht auf ihn zu: «Hallo, kann ich Ihnen helfen?» – «Ja, ich will ein Prostata-Massagegerät.» – «Wow, du weisst, was du willst. Wie kommst du darauf?» – «Mein Therapeut sagte, das sei gut für die Prostata» – «Stimmt, aber du musst immer Gleitmittel benutzen und lass dir Zeit! Ansonsten tuts weh, wenn du das Ding einführst.» Der Kunde kauft das Produkt. Beim Hinausgehen betont er noch einmal: «Ich mache das aus gesundheitlichen Gründen.» Temperli schmunzelt: «Das Gerät kann auch sexuell erregen.»
Viele schätzen eine Beratung, meint Temperli. «Alle wissen, wie man einen Dildo verwendet.» Doch inzwischen gäbe es Hightech-Produkte, die schnell überfordern. «Wir verkaufen App-gesteuerte Sexmaschinen, künstliche Vaginas mit Drehmotor und Vakuum sowie Dilatatoren, die sich Männer in die Harnröhre schieben.» Die Leute sollten wissen, wie das geht. Auch, um sich nicht zu verletzen. Hinzu komme ein persönlicher Kundenkontakt. Für Temperli das Beste an seinem Beruf: «Die Leute teilen mit mir ihre intimste Seite.»
Er selbst bezeichnet sich als schlichtweg sexuell. «Heterosexuell, homosexuell: Ich will nicht eingeordnet werden.» Viele seiner Produkte hat er ausprobiert. «Mir gefällt die künstliche Vagina.» Ansonsten beschreibt er sich als sehr sensibel. «Im Bett genügt mir ein Penisring, Gleitmittel und Massageöl.»
Grosse Stammkundschaft
Temperli sagt, er sei glücklich, aber nicht sorgenfrei. Onlinehändler wachsen stetig und dominieren den Markt. Grosskonzerne wie die WOW Tech Group kaufen massenweise Onlineshops auf. «Das Kräfteverhältnis ist inzwischen David gegen Goliath», klagt der Kleinunternehmer. Wegen der Marktkonzentration bestimmen die Big Player die Preise. Für Temperli leidet darunter auch die Vielfalt: «Neue Sextoy-Produzenten gehen ein, wenn ihre Geräte nicht von Grosskonzernen ins Sortiment aufgenommen werden.»
Angesichts dieser Entwicklung könnte man annehmen, dass sich Temperli finanziell bedroht fühlt. Doch das Gegenteil ist der Fall. Er behauptet, seinen Umsatz jährlich um fünf bis sechs Prozent zu steigern. «Wir haben eine grosse Stammkundschaft. Von Studierenden bis zu Pensionierten.» Zudem habe die Erotikfactory einen Ruf wie Sprüngli in der Schokoladenbranche.
Was Temperlis Geschäft zugutekommt, ist die steigende Akzeptanz von Sexualität. Er spüre, wie Schamgefühle tendenziell abnehmen. Herr und Frau Schweizer würden sich weniger davor scheuen, einen Erotikmarkt zu betreten. «Ich hatte eine 70-jährige Kundin, deren Mann kürzlich verstorben war. Sie wollte keinen neuen Partner, verspürte jedoch noch Lust und dachte an einen Vibrator. Als sie vor mir stand, war sie zum ersten Mal in einem Sexshop. Zwei Wochen später bedankte sie sich per Brief.»