Die Vene beim Verabreichen einer Infusion zu verfehlen, kann selbst den routiniertesten Pflegefachpersonen passieren. Dass man durch diesen Fehlgriff wegen vorsätzlicher Tötung vor Gericht steht, ist hingegen äusserst selten. Eine Exit-Mitarbeiterin musste sich jetzt einer solchen Verhandlung vor dem Regionalgericht Bern-Mittelland stellen. Sie wurde freigesprochen.
Die Geschichte nimmt ihren Anfang beim Sterbewunsch einer Patientin, deren Potenzial für eine Rehabilitation ausgeschöpft war, berichtet die «Berner Zeitung». Die Frau war ein Pflegefall. Ihr linkes Bein und ihr linker Arm waren gelähmt. Sie musste über eine Sonde ernährt werden. Im Frühling 2021 fällte sie schliesslich ihren Entscheid: Mit Unterstützung der Sterbehilfe-Organisation Exit wollte sie den Schlussstrich setzen.
Beim Prozess waren sich Staatsanwaltschaft und Verteidigung grundsätzlich einig. «Sie dürfen aufatmen. Sie haben nichts falsch gemacht», sagt die Gerichtspräsidenten bei der mündlichen Urteilsverkündung. Von der Anschuldigung der vorsätzlichen Tötung wurde sie freigesprochen.
Patientin bejaht Sterbewunsch mehrfach
Das Prozedere lief zunächst gewöhnlich ab. Nachdem die Patientin in den Sterberäumlichkeiten von Exit in Bern eingetroffen war, fragte die Pflegefachfrau, ob die Patientin nach wie vor zu sterben wünsche. Die Pflegefachfrau erklärte jeden Schritt – und immer fragte sie nach Erlaubnis. Laut Anklageschrift habe die Patientin die mehrmaligen Nachfragen nach dem Sterbewunsch stets bejaht.
Dann legte die Pflegerin den Infusionszugang. Sie öffnete das Rädchen zum Beutel, der mit Kochsalzlösung gefüllt war. Ein üblicher Schritt, um zu testen, ob die Infusion gut läuft. Es schien alles zu funktionieren. Schliesslich holte die Pflegerin das tödliche Medikament Natrium-Pentobarbital und spritzte es in den Infusionsbeutel. Das hätte eigentlich ihre letzte aktive Handlung sein sollen.
Wer mithilfe von Exit sterben will, muss mehrere Voraussetzungen erfüllen: Unter anderem muss man urteilsfähig sein und darf nicht aus dem Affekt handeln. Ein entscheidender Punkt ist, dass die Person mit dem Sterbewunsch den Suizid eigenhändig ausführen muss. Im Fall der Berner Patientin bedeutet das, dass sie den Zugang zur Infusion selber öffnen muss. Dies ist notwendig, damit der Tod als assistierter Suizid und nicht als aktive Sterbehilfe gilt. Letzteres ist illegal in der Schweiz.
Tödliche Flüssigkeit lief nicht in die Vene
Die Patientin tat also den letzten Schritt ihres Lebens und drehte das Infusionsrädchen auf. Die tödliche Flüssigkeit lief in ihren Arm.
Plötzlich kam es zu einer Komplikation: Nach 10 bis 20 Sekunden stellte die Pflegerin fest, dass der Arm an der Einstichstelle anschwoll. Daran erkannte sie, dass die Infusion neben statt in die Vene lief. Die Pflegerin legte die Infusion erneut – nun am rechten Arm der Patientin, die zwar noch lebte, aber nicht mehr ansprechbar war.
Wegen dieser Komplikation steht die Pflegefachfrau nun vor Gericht. Die Exit-Angestellte wusste selbstverständlich, dass die Patientin sterben würde, wenn die Infusion umgesteckt wird. Allerdings war die Patientin gemäss Anklageschrift nie darüber aufgeklärt worden, dass es ein Komplikationsrisiko bei Infusionen gibt. Die Folge: Es gibt keine Anweisungen der Verstorbenen, was in diesem Fall zu tun gewesen wäre. Die Patientin hat nie darum gebeten, die Infusion bei Komplikationen neu zu legen.
Solche Komplikationen seien «sehr selten», sagt eine Exit-Mediensprecherin gegenüber der «Berner Zeitung». Was in solchen Situationen zu tun sei, unterscheide sich je nach Fall und Patient. Die Mediensprecherin betont, dass Exit «nur ausgebildete, erfahrene Infusionsfachpersonen» einstellt.
Die Staatsanwaltschaft konnte die Komplikationen wegen der sogenannten Legalinspektion feststellen. Nach einer Sterbebegleitung muss jeweils kontrolliert werden, ob alles korrekt abgelaufen sei. In diesem Fall hat die Staatsanwaltschaft das Verfahren wegen vorsätzlicher Tötung eröffnet. Bei diesem Tatbestand ist in der Regel eine Freiheitsstrafe von über fünf Jahren vorgesehen. (bab)