«Das ist meine Heimat»
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Evakuierung von Mitholz:170 Einwohner und tonnenweise Bomben

In Mitholz BE verlieren 170 Menschen ihre Heimat – ein Besuch in einem Dorf, das es bald nicht mehr gibt
3500 Tonnen Munition als Nachbar

In Mitholz BE rosten 3500 Tonnen Kriegsmaterial vor sich hin. Der Felsstollen soll nun ausgeräumt und die Menschen evakuiert werden. Zu Besuch in einem Dorf, das es bald nicht mehr gibt.
Publiziert: 07.03.2020 um 13:08 Uhr
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Aktualisiert: 02.03.2021 um 15:50 Uhr
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Fritz Rösti und seine Tochter Annelies Grossen-Rösti vor ihrem Chalet in Mitholz.
Foto: Thomas Meier
Aline Wüst

Restaurant Balmhorn. Der Hund liegt unter dem Tisch, eine angefangene Lismete Socken darauf. Fritz Rösti (74) und seine Tochter Annelies Grossen-Rösti (50) stehen unentschlossen daneben. Sollen wir uns die Hand reichen zur Begrüssung oder nicht? Der Bundesrat rät davon ab.

Bundesrätin Viola Amherd (57) war hier letzte Woche. Nicht wegen Corona. Und auch nicht, um einen Wurstsalat zu essen im Balmhorn. Sie kam, um mitzuteilen, dass die Mitholzer ihre Häuser verlassen müssen, alle.

Die Menschen hier haben deswegen gerade andere Sorgen als das Virus. 3500 Tonnen Munition, die vor sich hin rosten. Als Nachbar.

Wir reichen uns die Hand.

Fritz Rösti, Rentner und passionierter Skifahrer, sagt: «Ich werde bald 75 Jahre alt. In zehn Jahren müsste ich hier weg. Dann wird das Dorf evakuiert, um den Stollen zu räumen. Aber mit 85 noch an einen anderen Ort ziehen?»

Röstis Chalet hat Baujahr 1948. Wie viele Häuser hier in Mitholz. Es ist das Jahr nach der Katastrophe. Seine Frau war damals drei Jahre alt, wurde von ihrer Mutter nach der ersten Explosion aus dem Haus getragen. Sie wollte ihre Jüngstes in Sicherheit bringen, dann die zwei anderen Kinder holen. Sie trug nur ein Nachthemd. Es lag Schnee. Zwei weitere Explosionen. Die Erschütterung war so stark, dass Seismografen in Zürich sie registrierten.

«Ich habe keine Angst»

Neun Menschen starben damals in Mitholz. Auch die beiden Kinder Sämeli und Luiseli. Und im gleichen Haus noch die Grossmutter Annelisli und der Pflegebub Christian. Das Dorf wurde wieder aufgebaut. Der Stollen allerdings nicht geräumt. «Das war ein Fehler», sagt Rösti.

2018 reiste Bundesrat Guy Parmelin (60) nach Mitholz. Seither wissen die Menschen: Kommt ein Bundesrat, bedeutet das nichts Gutes. Seine Nachricht: 3500 Tonnen Munition der Armee lagern noch im Stollen. Fritz Rösti sagt: «Ich habe keine Angst. 70 Jahre ist nichts passiert.»

Seine Tochter Annelies Grossen-Rösti, Geschäftsfrau, Politikerin und Mutter, fügt an: «Die Armee hat Tests gemacht. Das Zeugs ist noch hundert Prozent detonierfähig. Je länger das rostet, desto gefährlich wirds. Und das Schlimmste wäre, wenn es eine Kettenreaktion gäbe und hier alles in die Luft fliegt.» Zwischen den Vorhängen aus dem Fenster der Beiz sieht man die Felswand, hinter der die Bomben liegen.

«So einen Stollen hätte man nie in einem Dorf bauen dürfen», sagt Rösti. Wütend sei er deswegen nicht. «Gar nicht. Das war eine andere Zeit.» Krieg sei gewesen. «Da war dieser Hitler. Man hatte Angst. Darum baute man das.» Die Armee habe gehandelt. Nicht lange überlegt.

Damals war Deutschland der Feind. Die Schweiz versuchte, sich zu schützen. Hortete Munition im Berg. Heute niesen wir in die Armbeuge. Die Zeiten ändern sich. Die Feinde auch.

3500 Tonnen Munition als Nachbar
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Evakuierung von Mitholz BE:3500 Tonnen Munition als Nachbar

«Es tut schon weh»

Was nun? Rösti erzählt, dass der Bund in den nächsten zehn Jahren mit den Vorbereitungen beginnen werde. Eine Galerie bauen wolle, um Strasse und Schiene von Frutigen nach Kandersteg zu schützen. «Aber wenn sie mir eine fünf Meter hohe Wand vor das Haus bauen ...» «Fünf Meter reichen da wohl nicht», sagt seine Tochter. Rösti: «Ja, oder noch höher.» Da sehe man nichts mehr vom Tal, lebe in einer Baustelle. Er müsse sich überlegen, ob er das Haus verkaufe. Es zu kaufen, biete das VBS ja an. – «Es tut schon weh», sagt er.

Das Dorfleben werde verschwinden, sagt Grossen-Rösti. «Die Leute in Mitholz oder deren Eltern und Grosseltern haben die Katastrophe erlebt. Die Menschen hier teilen diese Erinnerung. «Es ist eine Gemeinschaft.» Nun würden alle an unterschiedliche Orte ziehen, den Bezug zum Dorf verlieren. Wer komme nach zehn Jahren wieder zurück? «Es ist das Ende dieser Dorfgemeinschaft. Es ist ein Ende.»

In der Nacht auf Dienstag ist Schnee gefallen. Um kurz vor halb elf scheint die Sonne zum ersten Mal ins Kandertal. Die Wirtin im Balmhorn dreht die Musik auf. Ländler. Gisella Nünlist (67) heisst sie. Sie strickt weiter an den Socken. Wenn Mitholz in zehn Jahren evakuiert wird, sei sie im Ruhestand. «Anderorts gibt es Gold im Boden, wir haben Dynamit», sagt ihr Mann Dänu (60). Der Wirt hat Humor. Das bewies er schon vor zwei Jahren, als auskam, was da noch im Stollen liegt. Er setzte Zündschnüer (Spaghetti Carbonara) oder Chrumi Dynamitstange (Bratwurst mit Rösti) auf die Speisekarte. Angekommen ist das im Dorf weniger gut. Er zog die explosive Speisekarte deshalb zurück.

Der dreijährige Finn sitzt auf der Schaukel. Seine Eltern haben ihr Chalet vor zehn Jahren fast komplett neu gebaut. Nur der Keller ist noch vom Haus, das zuvor da stand. In Mitholz zu wohnen, sei schön, sagt Finns Mutter Heidi Schmid (36). «Im Sommer können die Kinder einfach raus und sich austoben.» Ihr Leben sei unbeschwert. Obwohl es normal ist, beim Aushub eines neuen Hauses auf Munition zu stossen. Heidi Schmid ruft: «Schaaatz, du hast doch auch schon eine Bombe ausgegraben nicht?» Ihr Mann Patric (38) kommt ins Wohnzimmer und präzisiert: Zünder, Gewehrmunition und ein kleines Geschoss. Heidi Schmid sagt: Mit dem Wissen darum, dass im Fels tonnenweise Bomben lagern, habe sich für sie schon vieles geändert. Ängstlich sei sie nicht, gar nicht. Im letzten Jahr aber verursachte ein Düsenjet einen Überschallknall. «Ich habe sofort zur Felswand geschaut.» Das angefangene Gartenhäuschen würden sie nun nicht mehr beenden. «Sollen wir gewisse Unterhaltsarbeiten am Haus noch machen?» Das sind Fragen, die sich Schmids nun stellen. Auf dem Boden steht ein Playmobil-Bauernhof. Jolina (5) kommt vom Kindergarten heim. Für die junge Familie ist klar: Sie ziehen weg aus Mitholz. Sobald sie ein Haus gefunden haben. Zurückkehren werden sie wohl nicht mehr.

Christian Trachsel (77) hingegen will nicht weggehen. Er hat nach dem Mittag im Restaurant Balmhorn vorbeigeschaut und sagte: «Ich bleibe. Wenn alle Mitholzer sagen, dass sie nicht wegziehen, was will das VBS dann machen?»

Heidi Schmid sitzt am Esstisch und sagt: «Ich will nicht hadern mit der Situation.» Das sei verlorene Energie. «Wir können ja sowieso nichts ändern.» Sie findet es wichtig, dass die Munition wegkommt. Auch wenn das für sie, ihren Mann und die zwei Kinder bedeutet, dass ihr Leben auf den Kopf gestellt wird. Aber: «Auf uns kommt nun etwas Neues zu. Bestimmt auch etwas Gutes!»

Eine Milliarde, um das Dorf sicher zu machen

Jeder hier in Mitholz steckt in anderen Lebensumständen. Gedanken machen sich alle. 170 Menschen sind von der Evakuierung betroffen. Zählt man nur die Erwachsenen, würden die Mitholzer auch mit den neusten Corona-Präventionsmassnahmen noch immer alle zusammen in einem Raum sitzen dürfen.

Rund eine Milliarde Franken lässt es sich die Schweiz kosten, dass es sich in Mitholz künftig einmal so sicher leben lässt wie anderswo im Land. Obwohl: Mancher Mitholzer sagt, dass es in dieser ganzen Sache doch gar nicht um das Dorf gehe. Sondern um die Strasse, die zum Autoverlad in Kandersteg führe. Es gehe doch um die Verkehrsachse, um die Walliser. Die Mitholzer seien in dieser Sache nicht erste Priorität.

Etwas weiter oben im Dorf wohnt Karl Steiner (63). Er ist Briefträger und Besitzer von zehn Bienenvölkern. Die Bienen müssten auch umziehen. Bloss wohin? Im Tal gebe es kaum Wohnungen und auch kein Bauland. Und er sei sich das Leben hier gewohnt. Erst kürzlich haben er und seine Frau eine neue Küche eingebaut. In zwei Jahren werde er pensioniert.

Steiner hat sich darauf gefreut, endlich mehr Zeit in seinem Budeli zu verbringen – der Werkstatt im Untergeschoss. Darauf gefreut, aus Holz vom eigenen Wald eine Puppenstube zu machen für die Grosskinder und andere Sachen. Die Bomben im Fels haben den Plan zerstört. «Finden wir wieder ein Zuhause, wie wir es hier haben?»

Das fragt sich auch Walter Lüthi (65). Sein Haus ist seit 270 Jahren im Familienbesitz. Lüthi war Büezer, ist nun pensioniert. Geld habe er aufgenommen, um das Haus zu kaufen. Es zu renovieren. Er kämpfte mit Lawinen. Hochwasser und Sturm Lothar. Ein Paradies sei, was er heute habe. Mit Pferden, Hühnern, Katzen und einem Hund. «Hier wollte ich einen glücklichen Lebensabend verbringen», sagt er und fügt leise an: «Das ist meine Heimat.» Der Blick aus dem Fenster, der Baum am Wegrand, die Silhouette der Berge, bevor die Nacht kommt. Auch die schroffe Felswand, hinter der die Bomben liegen. Heimat.

«Ich habe keinen Kummer»

Bundesrätin Amherd hat versprochen, alles für die Mitholzer zu tun. Die Bewohner wollen sich nicht auf ihre Worte verlassen. Sie haben einen Verein gegründet und ein Anwaltsbüro engagiert, das ihre Interessen gegenüber dem Bund vertritt. Und zwar eines, das sich mit Spezialfällen auskennt. Karl Steiner, der Briefträger mit den vielen Bienen, sagt: «Es ist wichtig, dass alle Mitholzer gleich behandelt werden.» Damit nicht die lautesten am besten wegkommen, sondern alle gleich.

Steiners Nachbar ist ein Steinbruch. Bernhard Reichen (44) lebt von dem, was vor über 10'000 Jahren vom Berg ins Tal donnerte. Aber so ein Steinbruch lässt sich schwer zügeln. Trotzdem sagt Reichen: «Ich habe keinen Kummer.» Die nächsten zehn Jahre arbeite er mit seinen 20 Mitarbeitern wie gewohnt weiter. Vielleicht mit kleineren Einschränkungen. Für die Zeit der Evakuierung hofft er, sein Geschäftsmodell anpassen zu können. Der Stein von den Räumungsarbeiten müsse irgendwo hingebracht werden. «Warum nicht hier hin in den Steinbruch?», sagt er. Reichen gibt sich zuversichtlich.

Genauso wie die Häuser in Mitholz. An vielen steht ein Spruch. An Fritz Röstis Chalet ist zu lesen: «Was uns zerstört in einem Augenblick, gibt keine Zeit uns mehr zurück, nicht rückwärts, vorwärts gilts zu schauen, mit neuem Hoffen und Vertrauen.»

Annelies Grossen, die mittlerweile mit ihrer Familie in Frutigen lebt, aber ebenfalls im Verein ist, der die Interessen der Mitholzer vertritt, sagt: «Es geht weiter. Wir suchen nun Lösungen.» Die Mitholzer hätten gewollt, dass der Stollen geräumt wird. Das sei eben die Konsequenz. Tue man nichts, verschiebe sich das Problem bloss auf die nächste Generation. Vater und Tochter sind sich einig: «Es ist ein Opfer für die künftigen Mitholzer, das wir nun bringen müssen.»

Und ihre Grossmutter, so Grossen, die damals im Nachthemd vor der Explosion floh, hätte das Dorf bestimmt gern verlassen, wenn sie dadurch die Kinder hätte retten können.

Die Katastrophe von Mitholz

Erbaut wurde das Munitionsdepot während des Zweiten Weltkriegs. In der Anlage werden 7000 Tonnen Munition gelagert. Darunter Artilleriemunition, Minen, Flab-Munition, 50-kg-Fliegerbomben, Artilleriegeschosse und Pulverladungen.

Am 19. Dezember 1947 um 23.10 Uhr sehen Einwohner seltsame Lichter am Fels. Um 23.30 Uhr kommt es zu einer ersten Explosion. Stichflammen, die bis zu 70 Meter weit reichen, kommen aus den Eingängen des Depots. Zwei weitere Explosionen zerstören einen grossen Teil des Dorfs.

Neun Menschen sterben. 200 werden obdachlos. Die Schweizer Bevölkerung ist schockiert. Geld- und Sachspenden werden ins Kandertal geschickt.

Die Umgebung wird nach der Katastrophe mit Minensuchgeräten so gut wie möglich abgesucht. Die Eingänge der Stollen werden geräumt. Das Depot wird nicht geräumt. Das Dorf aber wieder aufgebaut.

1986 nahm die Armee den Mitholzer Stollen wieder in Betrieb. Als Armeeapotheke und Truppenunterkunft. Als das VBS Ende 2017 plant, ein Rechenzentrum im Stollen zu errichten, wird erstmals seit 1949 eine umfassende Risikoanalyse gemacht. Die zeigt: Das Risiko ist viel grösser als bisher angenommen. Sofort werden Armeeapotheke und Truppenunterkünfte geräumt. Verteidigungsminister Guy Parmelin informiert die Mitholzer 2018 persönlich darüber, dass noch immer 3500 Tonnen Munition im Stollen lagern. Unmittelbare Gefahr für die Bevölkerung drohe nicht. Das VBS arbeite an einer Lösung, hiess es. Die wurde Ende Februar präsentiert: Der Stollen wird ab 2031 geräumt. Die Räumung dauert rund zehn Jahre. Für diese Zeit wird Mitholz evakuiert.

Über vier Tonnen Munition werden in Mitholz nach der Katastrophe von 1947 zusammengetragen. Die Munition wird in den Thunersee gekippt.
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Erbaut wurde das Munitionsdepot während des Zweiten Weltkriegs. In der Anlage werden 7000 Tonnen Munition gelagert. Darunter Artilleriemunition, Minen, Flab-Munition, 50-kg-Fliegerbomben, Artilleriegeschosse und Pulverladungen.

Am 19. Dezember 1947 um 23.10 Uhr sehen Einwohner seltsame Lichter am Fels. Um 23.30 Uhr kommt es zu einer ersten Explosion. Stichflammen, die bis zu 70 Meter weit reichen, kommen aus den Eingängen des Depots. Zwei weitere Explosionen zerstören einen grossen Teil des Dorfs.

Neun Menschen sterben. 200 werden obdachlos. Die Schweizer Bevölkerung ist schockiert. Geld- und Sachspenden werden ins Kandertal geschickt.

Die Umgebung wird nach der Katastrophe mit Minensuchgeräten so gut wie möglich abgesucht. Die Eingänge der Stollen werden geräumt. Das Depot wird nicht geräumt. Das Dorf aber wieder aufgebaut.

1986 nahm die Armee den Mitholzer Stollen wieder in Betrieb. Als Armeeapotheke und Truppenunterkunft. Als das VBS Ende 2017 plant, ein Rechenzentrum im Stollen zu errichten, wird erstmals seit 1949 eine umfassende Risikoanalyse gemacht. Die zeigt: Das Risiko ist viel grösser als bisher angenommen. Sofort werden Armeeapotheke und Truppenunterkünfte geräumt. Verteidigungsminister Guy Parmelin informiert die Mitholzer 2018 persönlich darüber, dass noch immer 3500 Tonnen Munition im Stollen lagern. Unmittelbare Gefahr für die Bevölkerung drohe nicht. Das VBS arbeite an einer Lösung, hiess es. Die wurde Ende Februar präsentiert: Der Stollen wird ab 2031 geräumt. Die Räumung dauert rund zehn Jahre. Für diese Zeit wird Mitholz evakuiert.

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