Auf einen Blick
- Kandersteg feiert Belle-Époque-Woche mit historischen Kostümen
- Zeitreise ins 19. Jahrhundert mit viktorianischen Kleidern und Benimmregeln
- Über 300 Mitglieder im Verein, Tendenz steigend
Dass in Kandersteg BE die Bahnhofsuhr stehen geblieben ist, passt zu dieser Geschichte. Wer in den letzten Januartagen das Bergdorf im Berner Oberland besucht, begibt sich auf eine Zeitreise. Auf den Strassen begegnen einem Frauen in viktorianischen Mänteln und Männer mit glänzenden Zylindern – alle sehen ein bisschen aus wie Mary Poppins oder Winston Churchill. Zelebriert wird, zum 15. Mal schon, die Belle-Époque-Woche.
Im Gemeindesaal gibt Patrick Schlenker einen Crashkurs in Benimmregeln des Fin de Siècle. Der historische Berater legt ein Buch auf das Haupt einer Dame und bittet sie, damit ein paar Schritte auf der Bühne zu gehen. Das helfe, die korrekte Körperhaltung einzunehmen, erklärt der Basler, die Nase also weder zu tief noch zu hoch zu tragen. Schliesslich wolle niemand wie ein «Huscheli» oder wie ein Snob daherkommen.
Tödliche Handküsse
Danach führt Schlenker vor, wie das mit dem Handkuss geht, eine äusserst delikate Angelegenheit. Dieser müsse nämlich stets bloss angedeutet bleiben, es sei denn, es handle sich bei der Empfängerin um die Angetraute. «Sonst haben Sie im Morgengrauen plötzlich die Wahl der Waffen ...», warnt der Profi die Zuhörer im Saal. Schicklichkeit war im ausgehenden 19. Jahrhundert eine existenzielle Tugend.
Weshalb gerade Kandersteg in der Vergangenheit schwelgt, ist nicht ganz klar. Sicher hat es mit der Geschichte des Orts zu tun. Mit den englischen Touristen, die die Alpen vor über 100 Jahren als Erholungsraum entdeckten. Aus dieser Zeit stammt auch das Hotel Victoria, das eigentliche Zentrum der Belle-Époque-Woche. Vielleicht hat das Bedürfnis nach Nostalgie aber auch mit der ungewissen Zukunft zu tun. Ob Kandersteg ist der Fels stärker in Bewegung als jemals zuvor, es droht ein Felssturz gewaltigen Ausmasses. Und auch sonst steht es um die Welt gerade nicht zum Besten. Da kommt für manche oder manchen eine vorübergehende Realitätsflucht in bessere Zeiten ganz gelegen.
Jugendstil als Touristenmagnet
Adrian Erni trägt Melone, Lederhandschuhe und Stock – so wie es sich gehört. Seit letztem Jahr präsidiert der Ostermundiger den Verein, der die Belle-Époque-Woche organisiert. Über 300 Mitglieder zähle man inzwischen, darunter auch welche aus Deutschland oder Polen. Was diese Menschen verbindet, ist die Begeisterung für ein kurzes Zeitfenster in der Geschichte, in dem Aufbruchstimmung herrschte und vor allem Frieden, die Möbel verschnörkelter waren und die Roben opulenter. «Es ist die totale Entschleunigung», sagt Erni. Viele nehmen sich dafür eine Woche frei, quartieren sich im Victoria ein und ersetzen das Smartphone mit einer Taschenuhr. Für Kandersteg ist der Event zum Wirtschaftsfaktor geworden, rund eine Million Franken Einnahmen generiert die Belle-Époque-Woche dem Vernehmen nach. Es gibt einen Kostümverleih und selbst die Angestellten auf der Gemeinde tragen Jugendstil. Mit Fasnacht habe der Anlass aber nicht im Geringsten zu tun, betont Erni. «Wir verkleiden uns nicht, wir gewanden uns.»
Für ihren Belle-Époque-Look benötigt Jasmina Causevic über eine Stunde. Sie trägt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Unterkleid, Korsett, Bluse, Unterrock, Hüftpolster, Rock, Cape – und natürlich einen mit Blumen und Schleifen verzierten Hut. Die Schichten helfen gegen die Kälte. Ebenso erleichtern sie es, ganz in die Rolle einzutauchen. Es sei eine extrem spannende Zeit gewesen, sagt die Historikerin. «Man hatte gedacht, dass man sämtliche Probleme gelöst habe – und dann kam doch alles ganz anders.» Im Juni 1913 wurde der Lötschberg eröffnet, ziemlich genau ein Jahr später brach der Erste Weltkrieg aus. Die «Schöne Epoche» war definitiv zu Ende.
Lamahaar in der Hochsteckfrisur
In einem Salon des Hotels Victoria steckt Pamela Guggisberg Frisuren im Akkord hoch. Die Damen bereiten sich auf den Ball am Abend vor. Tanzveranstaltungen gehören zu den wenigen Ausnahmen, an denen für weibliche Teilnehmer, die es mit dem Knigge ernst nehmen, keine Hutpflicht gilt. Die Coiffeuse aus Bern plustert die Locken mit Lamahaar auf, webt Federn oder Diademe in ihre Kunstwerke. Kommt jemand und wünscht eine Frisur à la Rose aus dem Spielfilm «Titanic», dauert die Prozedur schon mal anderthalb Stunden. Sie mache das aus purer Leidenschaft, sagt Guggisberg.
Noch bis Sonntagnachmittag dauert die Belle-Époque-Woche in Kandersteg. Für die Hartgesottenen beginnen danach bereits die Vorbereitungen fürs nächste Mal: Die Suche nach authentischen Knöpfen fürs Abendkleid oder nach einem edleren Stock. Andere sind glücklich darüber, dass Zeitreisen auch in entgegengesetzter Richtung möglich sind. «Wir sehnen uns nicht nach dieser Zeit zurück», sagt etwa Jasmina Causevic. Die medizinische Versorgung sei im Vergleich zu heute schlecht gewesen, Frauen in ihren Rechten stark eingeschränkt. «Wir hätten uns wohl nicht als Angehörige der Oberschicht beim Eisstockschiessen vergnügt, sondern als Bauern ein hartes Leben geführt.» Vereinspräsident Adrian Erni meint, er werde froh sein, sich nicht mehr jeden Tag rasieren zu müssen. «Dafür tritt man auch gerne ein paar Rechte an die Frauen ab.»