Am Flughafen, vor dem Gotthard auf der Post
Deshalb ärgern Warteschlangen uns Schweizer besonders

Sie treiben uns in den Wahnsinn und sind schlecht für die Wirtschaft: Warteschlangen. Zwei Forscher erklären, weshalb.
Publiziert: 18.06.2023 um 17:00 Uhr
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Aktualisiert: 18.06.2023 um 13:50 Uhr
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Beim Anstehen überkommt uns ein komisches Gefühl: Die haben den Laden nicht im Griff. Aktuell der Fall am Flughafen Zürich.
Foto: Keystone
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Rebecca WyssRedaktorin Gesellschaft / Magazin

Das Unglück bricht an einem Freitag über die Zürcher Sihlpost herein. Kurz nach Feierabend. Menschen mit Paketen unter dem Arm stehen zusammengedrängt vor den Schaltern wie Schafe vor der Tränke auf der Weide, sie schweigen, gucken in die Telefone oder schauen den Glücklichen, die es bis zum Schalter geschafft haben, mit ihrem Laserblick so fest auf den Rücken, dass es fast Löcher gibt. Ihre stumme Botschaft: Mach vorwärts.

Eine junge Frau mit Hündchen schlarpt in die Halle, zieht am Automaten eine Nummer, guckt irritiert auf die Anzeigetafel: Vor ihr warten rund zwanzig andere. Sie nähert sich einem Mann in zerrissenen Jeans, zischt: «Ist das deren Ernst?» Dieser nickt halb ungläubig, halb genervt. Die Frau schaut ein letztes Mal auf die Anzeigetafel – nichts tut sich, mit angewiderter Miene schleift sie den Hund zum Ausgang.

Geht uns gegen den Strich

Die Szene lässt tief in die Seele der Schweiz blicken. Der Anblick einer Warteschlange wirkt auf uns so irritierend wie ein leerer Klopapier-Halter auf einer Restauranttoilette. Klarer Fall: Laden nicht im Griff. Mangelwirtschaft. Geht es in Italien an der Kasse nicht vorwärts, steht für manchen Schweizer sofort fest: «Bananenrepublik.»

Warten am Flughafen Zürich. Wenn alles nichts hilft: Aufs Telefon schauen.
Foto: Keystone

Und so häufen sich die Empörungsmeldungen. Vor kurzem aus dem Flughafen Zürich, wo die Passagiere mit ihren Handkoffern und Badelatschen nun schon weit vor der Sicherheitskontrolle in der Schlange hängen bleiben. Nur ein Thema drückt noch mehr aufs Gemüt: der Stau vor dem Gotthard. Dreimal länger als früher stehen die Autos auf der Urner Autobahn still. Ein Grüppchen von Parlamentariern will dem mit einer Maut ein Ende setzen.

Warteschlangen sind alles andere als banal. Sie wirken sich auf die Gesellschaft aus. Die Wirtschaft. Wie das alles zusammenhängt – dem wollen wir in diesem Text auf die Spur.

2019 auf der Urner Autobahn vor dem Gotthard.
Foto: Keystone

Dr. Warteschlange ordnet ein

Richard «Dick» Larson (80) hat in seinem Leben schon Hunderte von Stunden mit Überwachungsvideos aus Kaufhäusern zugebracht, Menschen beim Anstehen zugesehen – das ist sein Job. Er forscht zur Warteschlangentheorie, ist Professor an der amerikanischen Universität Massachusetts Institute of Technology (MIT). Larson alias Dr. Queue (Dr. Schlange), womit er seine Mails zeichnet, hat herausgefunden, dass Pendler bis zu zwei Jahre ihres Lebens in Staus verbringen. Und er lernte etwas über die Menschen: «Das Verhalten der Leute in einer Warteschlange ist wie ein Mikrokosmos der breiteren Gesellschaft.»

Professor Dick Larson.
Foto: Screenshot youtube

In England gehört «Queuing» so zum Nationalstolz wie das Königshaus. Selbst an der Bushaltestelle stehen die Briten diszipliniert Schlange. Niemand drängelt vor, alle halten Abstand zur Vorderperson, und zwar so viel, so der «Guardian», «wie Sie beim Tanzen mit Grosstante Mary Abstand lassen würden». Anders im Mittelmeerraum. Larson schreibt per Mail, dort zähle das Gesetz des Stärkeren. Wer sich reinquetschen könne, quetsche sich rein. Prallen die beiden Kulturen aufeinander, knallt es. Laut ihm ist ein Ort prädestiniert: Schweizer Skilifte.

Menschen reihen sich nicht von Natur aus hintereinander ein. Sie bilden Gruppen, Rotten und Scharen. Doch Warteschlangen sind ein neues Phänomen.

Am Anfang stand die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert, die die Menschen in Massen in die Städte und vor die Ladentheken trieb. Das zeigt das Buch «Why Does the Other Line Always Move Faster». Der Autor David Andrews fand den ersten schriftlichen Beleg für die Warteschlange: ein Buch von 1837 über die Französische Revolution, in dem der Autor die komischen «Schwänze» (französisch: la queue, der Schwanz) vor französischen Bäckereien beschreibt. Andrews schreibt, dass dies die Werte der Revolution verkörperte. «Geduldig zu warten, bis man an der Reihe war, bedeutete, alle gleichzubehandeln.»

Warum wir ausrasten

Die Schlange also als Ausdruck von Zivilisation? Teilhabe? Miteinander? Schön wärs!

Dick Larson kennt auch die andere Seite: Ausraster. Vor fast vierzig Jahren wartete er in einer von mehreren Schlangen eines grossen Kaufhauses, wollte ein Velo für seinen Sohn abholen. Womit er nicht gerechnet hatte: die vielen Leute, die nach ihm ankamen, aber vor ihm ihre Waffeleisen und Steppdecken ausgehändigt bekamen – nur weil einige Verkäufer schneller waren als andere. Die Ungerechtigkeit nagte an Larson, er ärgerte sich die ganze Nacht und brachte das Velo am nächsten Tag zurück. Die Episode war der Anfang seiner Karriere. Heute hat dieses Phänomen einen Namen, sagt er: «Queue Rage», Warteschlangen-Raserei. Mit teils extremen Folgen, zumindest in den USA: Messerstechereien auf Supermarkt-Parkplätzen.

Wir kennen das Gefühl. Wir reihen uns auf dem Perron in die Traube vor der Zugtüre ein, lassen brav zuerst die Reisenden aussteigen. Bis wir realisieren: Da drückt sich doch tatsächlich von aussen ein Depp mit Tasche bis zu den Knien durch die Gruppe der Ankömmlinge in der Tür. Auch stressig: Wenn wir nicht abschätzen können, wie lange es dauert. Oder wir stehen unter Zeitdruck, müssen kurz vor knapp den Flieger erwischen und stecken vor der Passkontrolle fest.

Claude Messner (52), Professor für Konsumentenverhalten an der Universität Bern, nennt einen weiteren Frusttreiber: die eigene Erwartung. Rechnet man kurz vor Weihnachten mit einer Schlange in der Spielwarenabteilung, ist man geduldiger, als wenn man davon überrascht wird. Dann gilt, wie Messner sagt: «Geht es langsamer voran als angenommen, dämpft das unsere Stimmung.» Das Hirn sende das Signal: Ändere etwas, los! Geht das nicht, folgt: Stress. Wut. Man geht künftig vielleicht sogar woanders einkaufen. Erzählt anderen davon. Der Ruf des Unternehmens ist gefährdet. Messner sagt: «Warteschlangen wirken sich negativ auf den Umsatz aus.»

Professor Claude Messner.
Foto: Sven Thomann

Anstehen als Status

Ausser: Es geht um eine Schlange, in die man sich gerne einreiht. Die uns zu einem begehrten Gut führt. Zu Status. Will man an der Zürcher Bahnhofstrasse beim Luxushaus Hermès eine Birkin-Tasche kaufen, läuft man auf. Kein einziges Exemplar gibt es im Laden, weil: Nicht vorrätig – heisst es. Auf der Warteliste für die Tasche stehen gemäss «NZZ» 800 Namen. Das Anstehen steigert den Wert.

Alle anderen Unternehmen geben sich alle Mühe, uns bei Laune zu halten. Telefonanbieter berieseln uns auf ihren Hotlines mit Feelgood-Songs. Freizeitparks wie das Disneyland stellen Bildschirme mit Filmchen oder Quizfragen am Rand der Schlange auf. Sie tricksen sowieso, geben absichtlich eine kürzere Wartezeit an, damit wir ein High erleben, weil es schneller geht. Und Coop und Migros arbeiten längst mit Self-Scanning-Kassen, obwohl eine Kassierin dreimal schneller scannt und einkassiert, als wenn wir das selber tun – wie Messungen der Migros zeigen sollen. Der Effekt: Wir bleiben beschäftigt.

Die Post macht also alles richtig. In der Zürcher Sihlpost ist klar, wann man drankommt. Und niemand wird benachteiligt. Was keine Firma der Welt beheben kann: unseren Knorz mit Warteschlangen.


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