Doch, auch die Schweiz kann gross. Man kennt das sonst eher vom Ausland. Wenn die wirklich Wichtigen anreisen, bereiten manche Nationen ihnen einen riesigen Bahnhof. Ganze Hauptstädte werden stillgelegt, obwohl die Würdenträger ausser in den Nachrichten nirgendwo zu sehen sind.
Am Mittwoch ist die Schweiz Gastgeberin und «Genf» könnte die Welt verändern. Zumindest schauen sich Joe Biden und Wladimir Putin, Amerika und Russland, wieder einmal direkt in die Augen. Da bedarf es einer gewissen Vorbereitung.
Zum Glück hat die Schweiz ihre Männer vom Zivilschutz. Und die schwitzen gerade ziemlich. Zehn Kilometer Stacheldraht haben sie verlegt. Die Villa La Grange, demnächst Nabel der Welt, haben sie zur Festung umgebaut.
Sie verschnaufen gerade, als ihr Kommandant vorfährt. Der stämmige Glatzkopf mit Pilotenbrille sieht aus wie Marlon Brando. Nicht der Schönling in jungen Jahren, mehr der Abgekämpfte aus «Apocalypse Now».
«Wir bewegen uns sicher nicht mehr in der Komfortzone»
Der Kommandant ist irgendwie unzufrieden. Er schimpft über die da oben, die vielen Unterbrüche und lausigen Abläufe. So weit, so normal im Zivilschutz.
Vis-à-vis auf dem Quai Gustave-Ador sind Panzer aufgefahren. Ein Sichtschutz soll das Kriegsgerät vor den Blicken der Bevölkerung verbergen. Die graue Folie ist durchlöchert. Eine Passantin zückt ihr Handy und filmt in die Militärzone hinein. Anwohner Vincent Goldschmid (33) lässt Sohn Leo (3) von seinen Schultern über den Zaun blicken. Das Treffen hält er für eine gute Sache. Klar, Genf nehme ein Risiko auf sich: «Wir bewegen uns sicher nicht mehr in der Komfortzone.»
Vanille-Erdbeer für den Amerikaner und «etwas Alkoholisches» für den Russen
Bald ist das Seebecken Sperrgebiet. Immerhin darf der Glacemann auf dem Quai weiter verkaufen. Normale Kunden wird er keine haben. «Kein Problem», sagt er. Er verkaufe seine Glace halt einfach an Biden und Putin. Vanille-Erdbeer für den Amerikaner und «etwas Alkoholisches» für den Russen. Als jemand sagt, Putin trinke nicht, schaut der Mann verdattert.
Es gibt hierzulande wenige, die Putin nahe genug waren, um seine Trinkgewohnheiten zu studieren. Micheline Calmy-Rey (75), alt Bundesrätin und Verkörperung des internationalen Genf, ist eine von ihnen. Die Russen schenkten ihr sogar eine Medaille, weil sie damals in der Georgien-Sache so geschickt verhandelte. «Man sagt uns, wir müssten am Mittwoch zu Hause bleiben. Wir sind eingesperrt», meint sie am Telefon. Die Bevölkerung zahle einen hohen Preis. Calmy-Rey: «Die Schweiz kann Genf danken. Für einmal.»
Die Aussenministerin ist jetzt wieder Bürgerin. Die grosse Sause will sie am Bildschirm verfolgen. Das Treffen vermittle weltweit ein Bild der Schweiz, das nicht hoch genug eingeschätzt werden könne. Mit dem russischen Aussenminister Sergei Lawrow hatte sie früher viel zu tun. Auch er kommt nach Genf, ist aber, scherzt Calmy-Rey, «ein viel beschäftigter Mann».
Was wird der Gipfel bringen?
Jean Ziegler (87) kann am Telefon nur staunen. Der Soziologe, Menschenrechtsaktivist, Bestsellerautor – kurz: der in der Deutschschweiz vielleicht bekannteste Genfer – findet es «unglaublich», dass es «während all diesen Hunderten von Konferenzen in Genf nie ein Attentat gab».
Bei anderen Gelegenheiten allerdings schon: Österreichs Kaiserin Sisi wurde hier beim Spaziergang erstochen. Und den deutschen Politiker Uwe Barschel fand man tot in einer Hotelbadewanne, bis heute ist unklar, warum. Nur an einer Konferenz waren beide tatsächlich nicht.
Ziegler wird sein, wo man ihn vermutet. Auf der Strasse. Geplant ist eine Demo der Zivilgesellschaft, der Linken und Gewerkschaften. Er sei nicht gegen das Treffen, sagt er, weil zusammen reden besser sei als gegeneinander kämpfen. «Aber wir müssen die Weltherrscher mit ihrer Verantwortung konfrontieren!»
Den USA und Russland ruft Ziegler zu: «Hört auf, mit euren Vetos permanent die Uno zu lähmen! Und beendet die Finanzierung der blutigen Stellvertreterkriege in Syrien, Jemen, Südsudan und Afghanistan!»
Man kann sich durchaus fragen, was der Gipfel am Ende bringt. Oder vielleicht eher, wem er etwas bringt. Genf, der Schweiz, der Welt? Micheline Calmy-Rey glaubt, das Treffen gebe uns die Chance, überhaupt Zugang zu den grossen Mächten zu bekommen: «Vielleicht können wir Biden die Message übergeben, dass wir keine Steueroase mehr sind.»
«Schlimm wäre, wenn sie brutal abbrächen»
Biden wiederum will laut Calmy-Rey die Entschlossenheit der Verbündeten gegenüber autoritären Regimes stärken. Die ehemalige Bundesrätin bezweifelt allerdings, ob diese Strategie erfolgreich sein wird: «Wir befinden uns nicht mehr im Kalten Krieg. Und China ist stärker als die ehemalige Sowjetunion.»
Die Genfer erzählen sich dazu eine Anekdote: Eigentlich hätten die Behörden für das Gipfeltreffen jene Villa vorgeschlagen, in der sich vor 36 Jahren Reagan und Gorbatschow die Hände reichten. Sie liegt günstiger und ist in bester Erinnerung. Nur merkten die Behörden irgendwann, dass die Villa heute den Chinesen gehört. Also war der Plan gestorben. Die Geschichte zeigt im Kleinen, wie sich das «Great Game» verändert hat.
Ein grosser Durchbruch wird in Genf nicht erwartet, es geht eher um kleine Schritte. Mit Ergebnissen rechnen Calmy-Rey und Ziegler im Kampf gegen den Terrorismus und beim Umweltschutz, vor allem bei den Klimazielen – Themen also, die im Interesse beider Mächte sind. «Das würde auch die Allianz zwischen China und Russland schwächen», sagt sie.
Der Rest steht in den Sternen. «Schlimm wäre, wenn sie brutal abbrächen, das gäbe schlechte Erinnerungen und ein negatives Image für die Schweiz», sagt Calmy-Rey. Sie hofft auf die besänftigende Wirkung der Landschaft.
Vor der Villa lädt Lastwagenchauffeurin Marie derweil Betonhindernisse ab, die vor Autobomben schützen sollen. Unflätige Graffiti hat sie übermalt. Bloss Biden oder Putin nicht verärgern. Auf einem Block steht: «Auch das Virus kann uns nicht entzweien!»
Als Motto für die Gäste wäre das schon mal ein Anfang…