Auf einen Blick
- Zürcher Kantonsrat erwägt Entschädigung für Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen vor 1981
- Brief von Betroffenen löst Debatte über Ungleichbehandlung der Opfer aus
- Fünf Parteien fordern 25'000 Franken Solidaritätsbeitrag pro Person
Ein dringliches Postulat im Zürcher Kantonsrat könnte den Durchbruch bringen. Fünf Parteien wollen den Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 «rasch und unkompliziert» jeweils 25’000 Franken auszahlen.
Die Koalition aus Alternativer Liste, SP, Grünen, EVP und GLP hat im Zürcher Kantonsrat eine knappe Mehrheit. Sie will die «historische Mitschuld und die Mitverantwortung der Zürcher Behörden am grossen Leid der Betroffenen» anerkennen.
Brief bringt Kantonsrätin zum Nachdenken
Gehandelt haben die Kantonsrätinnen, weil sie einen Brief bekommen haben. Andrea Ludwig aus dem Zürcher Oberland sowie andere Betroffene haben im November 2024 gemeinsam mit dem Beobachter Briefe an verschiedene Kantonsparlamentarier geschrieben, um auf die Ungleichbehandlung aufmerksam zu machen.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
Denn heute gibt es eine Zweiklassengesellschaft unter den Opfern. Wer im Kanton Schaffhausen oder in der Stadt Zürich «versorgt» worden ist, erhält 25’000 Franken mehr als alle anderen Betroffenen. Denn nur dort gibt es eigene Solidaritätsbeiträge.
«Stossende Ungleichbehandlung»
Kantonsrätin Lisa Letnansky von der Alternativen Liste bezeichnet das als stossend. «Ich wusste nicht, wie gross die Ungleichbehandlung der Opfer durch die Kantone und Gemeinden ist.» Erst Andrea Ludwig habe sie darauf aufmerksam gemacht.
Es sei unhaltbar, dass Opfer unterschiedlich hohe Solidaritätsbeiträge erhalten, je nachdem, welche Behörde die Zwangsmassnahme angeordnet habe, sagt Letnansky.
Wenn Zürich als bevölkerungsreichster Kanton der Schweiz einen eigenen Solidaritätsbeitrag ausrichtet, könnten andere Kantone unter Druck kommen. Denn das Thema ist auch in den Kantonen Aargau, Luzern, Bern oder St. Gallen hängig. Mit unterschiedlichen Erfolgschancen.
Die Eidgenossenschaft hat die Schuld des Staates gesetzlich verankert: «Der Bund anerkennt, dass den Opfern Unrecht zugefügt worden ist, das sich auf ihr ganzes Leben ausgewirkt hat.»
Der Kanton Thurgau zahlt Opfern von Medikamentenversuchen in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen seit dem 1. Januar einen Solidaritätsbeitrag in der Höhe von 25’000 Franken aus. Betroffene können beim Staatsarchiv ein Gesuch einreichen.
Für alle anderen Zwangsmassnahmen-Opfer des Kantons Thurgau gibt es aber kein zusätzliches Geld.
Die Eidgenossenschaft hat die Schuld des Staates gesetzlich verankert: «Der Bund anerkennt, dass den Opfern Unrecht zugefügt worden ist, das sich auf ihr ganzes Leben ausgewirkt hat.»
Der Kanton Thurgau zahlt Opfern von Medikamentenversuchen in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen seit dem 1. Januar einen Solidaritätsbeitrag in der Höhe von 25’000 Franken aus. Betroffene können beim Staatsarchiv ein Gesuch einreichen.
Für alle anderen Zwangsmassnahmen-Opfer des Kantons Thurgau gibt es aber kein zusätzliches Geld.
Zürich hat Geld, Bern angeblich nicht
Die Berner Regierung, die am meisten Betroffene in ihrem Kanton zählt, will keinen eigenen Solidaritätsbeitrag zahlen. Das zeigt ein Brief vom Dezember 2024 an Betroffene, der dem Beobachter vorliegt. Bern habe keine Mittel dafür, man bitte um Verständnis, heisst es darin. Pikant: In Zürich scheint das Geld kein Problem zu sein. Man plant, dieses dem bestehenden Gemeinnützigen Fonds zu entnehmen.
Andrea Ludwig ist deshalb zuversichtlich für alle Kantone. Sie haute mit 13 Jahren nach einem sexuellen Übergriff aus ihrem Zuhause im Zürcher Oberland ab. 1977, als 15-Jährige, wurde sie von der Stadtpolizei Zürich zwei Wochen lang in die Jugendzelle 1 im Keller der Polizeikaserne eingesperrt, wie der Beobachter berichtete.
Ihr Vormund aus dem Zürcher Oberland «versorgte» sie in Heimen und liess sie schliesslich knapp ein Jahr lang «zur Umerziehung» ins Frauengefängnis Hindelbank sperren – obwohl Andrea Ludwig nichts verbrochen hatte und es kein Gerichtsurteil gegen sie gab.
«Kampf hat sich gelohnt»
«Ich bin dankbar, dass Kantonsrätinnen und Kantonsräte sich für uns Opfer einsetzen. Es ist schön, zu erleben, dass uns jemand wahrnimmt und unterstützt», sagt Andrea Ludwig. Sie wohnt heute im Kanton Graubünden, schlägt sich mit einem bescheidenen Einkommen durch und engagiert sich mit Vorträgen an Hochschulen dafür, dass die menschenrechtswidrigen «Versorgungen» von Verdingkindern und Heimkindern nicht vergessen gehen.
«Viele von uns stehen finanziell schlecht da, weil sie ohne Berufsabschluss ins Leben starten mussten», sagt sie. Das wirkt sich laut Studien oft lebenslang aufs Portemonnaie aus. «Man hat uns genommen, was für andere normal war: eine Lehre zu machen oder mindestens einen Schulabschluss», sagt Ludwig.
Andrea Ludwig sieht sich in ihrem unermüdlichen Engagement gegen das Vergessen bestätigt: «Es zeigt, dass Kämpfen sich lohnt. Ich habe nie aufgegeben und die Hoffnung nie verloren. Ich hoffe, dass es nun schnell geht mit der Auszahlung des Solidaritätsbeitrags, weil viele von uns schon sehr alt sind.»