Blick: Herr Rossier, es besteht die Gefahr, dass Russland in den nächsten Tagen in der Ukraine einmarschiert. Wie hoch schätzen Sie das Risiko ein?
Yves Rossier: Ich glaube nicht, dass es dazu kommt. Und es ärgert mich, wenn die amerikanische und englische Presse die Gefahr einer russischen Invasion an die Wand malen. Das schadet vor allem der Ukraine.
Warum sehen Sie diese Gefahr nicht?
Die Situation ist schwierig, natürlich. Selbst Wolodimir Selenski hat aber zweimal zur Zurückhaltung gemahnt. Die Ukraine ist nicht San Marino oder Liechtenstein. Wir sprechen hier von einem Land mit 50 Millionen Einwohnern. Stellen Sie sich vor, was ein solcher Krieg bedeuten würde.
Nämlich?
Es käme zu vielen Todesopfern. Russland würde der Einmarsch enorm viel Geld kosten. Es müsste zudem mit schmerzlichen wirtschaftlichen Gegenmassnahmen des Westens rechnen. Man muss sich darum fragen: Welchen Nutzen hätte eine Invasion? Und: Moskau müsste das Terrain im eigenen Land bereiten, damit die russische Bevölkerung bereit wäre, das alles mitzutragen. Doch ich sehe nicht, dass man die Bevölkerung darauf vorbereitet.
Und weshalb gehen denn andere Beobachter von einer Invasion aus?
Fragen Sie «Newsweek» und den «Daily Telegraph», die immer wieder neue Daten herausposaunen, zu denen die Invasion erfolgen soll. Die beiden Zeitungen kommen mir vor wie eine Sekte, die immer wieder das Ende der Welt verkündet.
Aber jetzt reden Sie die Situation schön!
Nein, sie ist ernst! Aber das ist sie schon seit 2014, als in Teilen der Ostukraine der bewaffnete Konflikt zwischen der ukrainischen Regierung und den von Russland unterstützten Separatisten losging. Schon seit 15 Jahren gibt es grosse Probleme, die 15'000 Todesopfer forderten. Und natürlich stehen jetzt sehr viele russische Truppen an der Grenze zur Ukraine. Es ist die grösste Konzentration seit Jahrzehnten. Aber eben: Sie sind nicht in der Ukraine, sondern noch zu Hause in Russland.
Das ist wenig beruhigend. Wie liesse sich der Konflikt befrieden?
Die Russen erwarten Zugeständnisse von den Amerikanern für eine friedliche Einigung. Das, was die USA bislang geboten haben, ist offensichtlich nicht genug. Und Sie dürfen eines nicht vergessen …
Was denn?
Während die Amerikaner mit Moskau verhandeln, schielen sie mit einem Auge auf China. Für die USA ist es zentral, dass Russland nicht zu stark in den Orbit der Chinesen gerät. Denn es gibt zwar noch zwei Supermächte, aber neben den USA sind eben nicht mehr die Russen die zweite Supermacht, sondern der grosse Rivale ist jetzt China. Ich weiss selbstverständlich aber nicht, wie weit die Amerikaner bereit sind zu gehen, um den Russen Konzessionen zu machen.
Der 61-jährige Yves Rossier stand bis Februar 2021 im Dienst des Aussendepartements (EDA). Er war bis Ende 2020 Botschafter in Moskau. Zuvor hatte er als EDA-Staatssekretär mit der EU das Rahmenabkommen verhandelt. Heute amtet er als Verwaltungsrat hiesiger Firmen und arbeitet als Berater – aber für keine fremde staatliche Behörde oder Stelle.
Der 61-jährige Yves Rossier stand bis Februar 2021 im Dienst des Aussendepartements (EDA). Er war bis Ende 2020 Botschafter in Moskau. Zuvor hatte er als EDA-Staatssekretär mit der EU das Rahmenabkommen verhandelt. Heute amtet er als Verwaltungsrat hiesiger Firmen und arbeitet als Berater – aber für keine fremde staatliche Behörde oder Stelle.
Wer muss denn jetzt einen Schritt wagen?
Alle müssen aufeinander zugehen. Doch solange jeder nur denkt, dass der andere den ersten Schritt machen muss, geschieht nichts. Es waren ja die Amerikaner, die zuerst aus dem «Open Skies»-Abkommen ausgestiegen sind, das Aufklärungsflüge über Militäreinrichtungen ermöglicht. Und die USA haben das INF-Abkommen zur Beschränkung von atomaren Mittelstrecken-Raketen als Erste verlassen. Es gilt jetzt wieder das gegenseitige Vertrauen zu stärken. Positiv werte ich, dass sich jetzt Frankreich und Deutschland in die Verhandlungen eingeschaltet haben.
Aber das kam sehr spät.
Besser spät als nie. Dass Emmanuel Macron und Olaf Scholz nun eine aktive Rolle übernommen haben, ist sicher hilfreich. Es ist immer besser, wenn mehrere Seiten sich einbringen, als wenn bloss zwei Staaten Pingpong spielen. Die beiden Staatsmänner haben ja das Minsker Abkommen wieder in die Diskussion eingebracht.
Mit welchem auf den Konflikt in der Ostukraine 2014 reagiert wurde.
Ja, das Abkommen ist in der Ukraine nicht sehr populär, umso schwieriger ist es für Wolodimir Selenski, innenpolitisch für dessen Umsetzung eine Mehrheit zu finden, wenn man im Westen ständig von Krieg spricht.
Und was kann die Schweiz tun, um den Konflikt zu entschärfen?
Dieser Schuh ist zu gross für unser Land. Man bietet die Guten Dienste zudem nur an, wenn man danach gefragt wird. Wenn Sie einen Ehestreit bei den Nachbarn mitbekommen, klingeln Sie ja auch nicht einfach an der Tür und bieten eine Mediation an. Denn dann dürften sich die streitenden Ehegatten gleich in einem Punkt einig sein: Dass Sie sich da nicht einzumischen haben!
Aber in Genf fanden doch Ukraine-Gespräche statt.
Das internationale Genf ist ein Ort, der sich für solche Gespräche anbietet, sofern ein Interesse an einem Austausch besteht, klar. Es ist ein Treffpunkt, an dem keine Seite Nachteile zu befürchten hat. Und nach Genf bestehen gute Flugverbindungen. Zudem bringt man schon einige Erfahrung mit für solche Treffen. Aber eben: Wir sollten unsere Rolle nicht überbewerten. Mir gibt Hoffnung, dass sich mit Herrn Macron und Herrn Scholz die Spitzen wichtiger europäischer Länder einbringen. Wir hier in der Schweiz können vielleicht zur Deeskalation beitragen, wenn wir uns nicht daran beteiligen, den Krieg herbeizureden.