WWF-Chef kritisiert Ausbau der Wasserkraft
«Wir setzen die Biodiversität aufs Spiel»

Umweltpolitiker wollen die Wasserkraft ausbauen – auch in geschützten Gebieten. Der WWF will das nicht einfach so hinnehmen.
Publiziert: 11.09.2022 um 00:25 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2022 um 10:54 Uhr
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Strom vor Naturschutz: Die Umweltkommission des Ständerats will, dass künftig auch in geschützen Gebieten wie der Greina-Ebene Wasserkraftwerke gebaut werden können.
Foto: Keystone
Interview: Camilla Alabor

Herr Vellacott, die Umweltkommission des Ständerats schlägt einen radikalen Ausbau der erneuerbaren Energien vor. Das müsste Sie eigentlich freuen.
Thomas Vellacott: Wir begrüssen die ambitionierten Ziele und die Pflicht, bei Neubauten Fotovoltaik-Anlagen zu installieren. Endlich hat die Politik verstanden, wie wichtig Solarenergie ist!

Mit anderen Teilen des Gesetzes sind Sie weniger zufrieden …
Das ist noch nett formuliert.

Künftig soll auch in geschützten Gebieten wie der Greina-Ebene der Bau von Kraftwerken möglich sein. Eine rote Linie für den WWF?
Die Ständeräte setzen das Herz der Schweizer Biodiversität aufs Spiel – für ein wenig mehr Strom. Biotope von nationaler Bedeutung wie die Greina oder das Maderanertal machen zwei Prozent der Landesfläche der Schweiz aus, beherbergen aber ein Drittel aller bedrohten Tierarten. Eine Schwächung des Biotopschutzes ist unverhältnismässig. Und total unnötig.

Inwiefern?
Wir haben genug Potenzial anderswo, auf den erwähnten Hausdächern oder bei den Wasserkraftprojekten des runden Tisches.

Die Kommission will auch eine Lockerung der Vorschriften beim Restwasser: Jenes Wasser, das unter der Staumauer durchfliesst, damit die Fische nicht auf dem Trockenen landen.
Auch das geht völlig in die falsche Richtung. Für die Fische, aber auch die Insekten, sind die Gewässer wichtig. Trocknen die Bäche aus, droht ein Massensterben. Lassen Sie es mich erklären …

Bitte.
Viele Wasserkraftwerke wurden gebaut, als ökologische Überlegungen noch keine Rolle spielten. Später erkannte man, wie problematisch das ist. Der Kompromiss war, dass nach einer Sanierung sechs bis zwölf Prozent des Wassers als Restwasser durchgelassen werden. Es geht hier um die sogenannten Überlebenswassermengen. Nun stellt die Kommission diesen Kompromiss infrage.

Mehr Wasser in den Staudämmen heisst auch: mehr Strom.
Wie gesagt: Es geht nicht darum, die Hälfte des Schweizer Stausees zu leeren, sondern um eine sehr begrenzte Menge Wasser.

In der Debatte um die Versorgungssicherheit stehen die Umweltverbände vor allem als Verhinderer da.
Dem ist nicht so. Wenn wir von Anfang an an einem Projekt beteiligt sind, finden sich gute Lösungen. Ich wehre mich aber dagegen, dass wir uns auf Nebenschauplätzen verlieren. Um von Öl und Gas wegzukommen, müssen wir auf die grossen Hebel fokussieren: Ausbau der Solarenergie und Energieeffizienz.

Die SVP sagt: Solarenergie alleine wird uns nicht retten.
Das sagt sie schon lange. Doch nun hat sich gezeigt, dass der Ausbau der Solarenergie in der Schweiz ein grösseres Potenzial hat als angenommen. Zudem hat die SVP offenbar nicht verstanden, was in den letzten zehn Jahren an den Energiemärkten passiert ist: Die Kosten für Solarenergie sind um über 80 Prozent gesunken.

Bundesrätin Sommaruga wollte mit dem runden Tisch den Ausbau der Wasserkraft vorantreiben. Die Umweltverbände sabotieren den Kompromiss.
Das tun sie nicht. Wir vom WWF und Pro Natura waren am runden Tisch dabei und haben die Schlusserklärung unterschrieben. Wir halten uns daran, dass man die 15 erwähnten Projekte für die Wasserkraft vertieft prüft, gleichzeitig aber den Biotop-Schutz und die Restwasser-Bestimmungen respektiert.

«Diese Reserve schafft Sicherheit»
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Bundesrätin Sommaruga:«Diese Reserve schafft Sicherheit»

Andere Umweltverbände, die am runden Tisch nicht dabei waren, wollen ihre Einsprachen aber aufrechterhalten.
Ich kann nur für den WWF sprechen. Wir stehen zum runden Tisch und vertreten das auch so.

Ein weiteres Projekt ist die Idee einer riesigen Solaranlage in Grengiols VS: Diese würde helfen, das Problem des fehlenden Winterstroms zu entschärfen. Wie stehen Sie dazu?
Anlagen auf Freiflächen können eine Ergänzung sein zu Solarpanels auf Häusern. Es kommt für uns aber nicht infrage, beim Bau solcher Projekte auf eine Umweltverträglichkeitsprüfung zu verzichten.

Damit nehmen Sie eine Verzögerung in Kauf – obwohl auch im nächsten Winter das Risiko einer Mangellage besteht.
Im Gegenteil. Wenn man einfach drauflosbaut, ohne die Auswirkungen auf die Natur zu prüfen, ist das Risiko von späteren teuren Anpassungen, Haftungsfragen und Gerichtsverfahren viel grösser.

Die drohende Mangellage im Winter ist das Resultat das Ukraine-Kriegs. Die SVP reagiert auf ihre Art: Mit einer Initiative will sie den Selbstversorgungsgrad auf 60 Prozent erhöhen.
Diese Initiative zielt völlig am Problem vorbei. Wenn wir jedes Jahr Tausende Tonnen Futtermittel für unsere Schweine und Hühner importieren, ist das keine Selbstversorgung. Was wir brauchen, ist: weniger Tiere, mehr Erbsen.

Wie bitte?
Heute pflanzen wir auf 60 Prozent der Ackerfläche Tierfutter an. Auf diesem Land würden wir besser Lebensmittel für Menschen anpflanzen. Der zweite grosse Hebel, den wir haben, um die Versorgungssicherheit zu erhöhen, ist die Reduktion von Foodwaste.

Sie sagen, wir sollten in der Schweiz weniger Tiere halten. Das führt doch einfach dazu, dass wir mehr Fleisch aus dem Ausland importieren.
Nicht unbedingt. In Ländern wie Deutschland geht der Fleischkonsum mittlerweile zurück. Das zeigt: Dass wir so viel Fleisch essen, ist kein Naturgesetz.

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