Wissenschaftler und Vertreter der Industrie äussern sich meist zurückhaltend – anders in diesen Tagen. Mit einer geharnischten Resolution wenden sich die obersten Repräsentanten des Schweizer Forschungsplatzes an die Landesregierung. In dem Schreiben, das SonntagsBlick vorliegt, schildern sie Dramatisches: Von entmachteten Schweizer Wissenschaftlern ist die Rede, von diskriminierten Studenten, vom Ausschluss aus Forschungsprojekten und von Rekrutierungsproblemen für hiesige Universitäten. Auf dem Campus brodelt es.
Grund für den Zorn der Akademiker ist der Rauswurf der Schweiz als Vollmitglied aus dem Forschungsprogramm Horizon. Oder im EU-Bürokratenjargon: die Herabstufung der Eidgenossenschaft zum «nicht assoziierten Drittstaat».
Brüssel vollzog diesen Schritt im letzten Sommer, nachdem der Bundesrat am 26. Mai 2021 das institutionelle Rahmenabkommen mit der EU versenkt hatte – unter Applaus einer politischen Allianz, die vom bürgerlichen Lager bis zu Finanz- und Gewerkschaftskreisen reichte. Die Kassandrarufe der Gelehrten verhallten damals wirkungslos.
Nicht irgendein Projekt
Der Inhalt ihrer Resolution ist brisant: Horizon Europe ist nicht irgendein Projekt, sondern das grösste Forschungsprogramm in der Geschichte der EU. Wer auf dem Kontinent ambitioniert Wissenschaft betreiben will, kommt kaum daran vorbei. Von 2021 bis 2027 werden 100 Milliarden Euro dafür ausgeschüttet.
Unterzeichnet haben das Papier drei Top-Interessenvertreter. Michael Hengartner ist Präsident des ETH-Rats. Das Gremium führt Bildungseinrichtungen des Bundes von Weltrang, darunter ETH Zürich, EPFL und Paul Scherrer Institut.
Novartis-Manager Matthias Leuenberger präsidiert Scienceindustries, den Verband der chemisch-pharmazeutischen Industrie. Die Branche machte in den letzten zehn Jahren knapp die Hälfte des Schweizer BIP-Wachstums aus.
Yves Flückiger steht der Rektorenkonferenz Swissuniversities vor und spricht damit für die nationale Hochschullandschaft zwischen Genfer- und Bodensee.
Forschungsplatz Schweiz in Gefahr
Mit dem Abbruch des Rahmenabkommens, so warnen die Autoren der Resolution, sei «die Zukunft der internationalen Vernetzung des Forschungs- und Innovationsplatzes Schweiz in Gefahr».
Neuerdings dürfen Forschende der Schweizer Hochschulen keine internationalen EU-Projekte leiten und sich nicht mehr um sogenannte ERC-Grants bewerben. Diese Auszeichnungen des Europäischen Forschungsrats sind quasi die Goldmedaillen der Spitzenforschung. Zwischen 2014 und 2020 machten sie rund 40 Prozent der europäischen Fördermittel in der Schweiz aus.
Berichtet wird auch von einem verschärften Konkurrenzkampf um Talente: Der Europäische Forschungsrat versucht Absolventinnen und Absolventen aus der Schweiz wegzulocken. Nachwuchskräften, die vor dem Horizon-Ausschluss eine Zusage erhalten hatten, wird der Wechsel an eine EU-Uni ermöglicht.
Milliarden allein reichen nicht aus
Forschungsminister Guy Parmelin beteuerte mehrfach, dass der Bund alles unternehme, um die Probleme zu lösen. Das Parlament hat für die nächsten sieben Jahre sechs Milliarden Franken gesprochen. Dennoch stellen die drei Verfasser der Resolution klar: «Die Teilnahme an Horizon (...) kann weder durch nationale Massnahmen noch durch verstärkte Kooperation mit anderen Staaten vollständig kompensiert werden.»
Die Regierung müsse alles tun, um einen vollen Horizon-Anschluss bis Ende Jahr zu erreichen. Dazu fordern sie eine Innovationsoffensive, «um die Exzellenz und die Wettbewerbsfähigkeit» des Landes zu erhalten. Der Bundesrat müsse diese Massnahmen umgehend einleiten und entsprechende Mittel sprechen.
Ob die Resolution etwas bewirkt, ist offen. Mit Sicherheit wird sie die Europadiskussion neu beleben.