Die Klimabewegung drohte die FDP zu überrollen, und das im Wahljahr. Beim Versuch, auf dieser Welle zu surfen, statt von ihr geschluckt zu werden, rief Petra Gössi den Freisinn im Februar 2019 kurzerhand zur Ökopartei aus. «Der Umweltschutz gehört zur DNA des Freisinns», liess die Parteipräsidentin verlauten und leitete einen spektakulären Kurswechsel ein – hin zu einer grüneren FDP.
Wenige Monate später belegte eine Mitgliederbefragung, wie sehr diese Neupositionierung dem Willen der Basis entsprach: 78 Prozent der FDP-Wähler wünschten sich von ihrer Partei ein stärkeres Engagement für den Umwelt- und Klimaschutz.
Die Wende nach den Wahlen
In der ersten Session nach den Wahlen zeigten sich die Folgen des Kurswechsels auch im Parlament: In der Wintersession sprach sich die Mehrheit der Fraktion für ein Verbot von Pestiziden aus, die in unerwünschten Mengen im Trinkwasser zu finden sind. Obwohl die FDP-Leute in der Kommission die Motion – vor den Wahlen – noch abgelehnt hatten.
Heute aber, ein gutes Jahr nach den Wahlen, folgt die Kehrtwende auf die Kehrtwende. In der Agrar- wie in der Umweltpolitik verfolgen freisinnige Politiker Ziele, die im Widerspruch zum vorgeblichen Öko-Kurs stehen – und im Widerspruch zum erklärten Willen der Parteibasis.
Pestizid verboten
Ausgerechnet die FDP hat einen Antrag eingebracht, der die Gefahr erhöht, dass mehr gefährliche Pestizide ins Trinkwasser gelangen. Konkret geht es um einen Vorstoss der Wirtschaftskommission des Ständerats, der als indirekter Gegenvorschlag zu den Trinkwasser- und Pestizid-Initiativen gedacht ist.
Damit wollen die Ständeräte unter anderem einen zweiten Fall Chlorothalonil verhindern: 2019 kamen Forscher zum Schluss, dass Abbauprodukte des Pflanzenschutzmittels möglicherweise krebserregend sind – der Bund verbot das Präparat gegen Pilzbefall per Anfang Jahr.
Ein Tropfen auf den heissen Stein, denn bis heute ist das Grundwasser zur grossen Sorge der Bevölkerung in vielen Gemeinden mit Stoffen verseucht (siehe Karte), die im Verdacht stehen, Krebs auszulösen.
Damit sich ein solches Szenario nicht wiederholt, will die ständerätliche Kommission künftig früher eingreifen können. Ihr Vorschlag: Wenn in Gewässern, aus denen Trinkwasser gewonnen wird, wiederholt ein Höchstwert überschritten wird, müssen die Behörden die Zulassung des betreffenden Pestizids überprüfen. Kann dieser Grenzwert von 0,1 Mikrogramm pro Liter auch mit weiteren Auflagen nicht eingehalten werden, folgt ein Verbot des Mittels.
Bürgerliche gegen strengeren Schutz
Nun will die FDP – an der Seite von SVP und CVP – diese Bestimmung wieder aufweichen. Geht es nach den bürgerlichen Parteien, soll der Grenzwert künftig nur für Pestizide gelten, deren Abbauprodukte bekanntermassen gefährlich (in Beamtensprache: «relevant») sind. Bei Pflanzenschutzmitteln, von denen noch offen ist, ob sie gefährlich sind («nicht relevant»), darf der Grenzwert um ein Vielfaches höher liegen.
Laut Parteipräsidentin Petra Gössi will die FDP mit ihrem Antrag verhindern, dass «überschiessend» Zulassungen für Produkte entzogen werden, «welche auf fundierter wissenschaftlicher Basis als nicht problematisch eingestuft werden». Auch sei der Antrag «im Grunde genommen ein Detail dieses Geschäfts». Wichtig sei, dass die Vorlage als Gesamtes betrachtet und nicht einzelne Punkte herausgepickt würden, so Gössi weiter.
Sie verweist darauf, dass die FDP-Mitglieder in jener Sitzung auch einen Antrag eingebracht hätten, um die Überdüngung zu senken – und auf das CO2-Gesetz, an dem die FDP federführend beteiligt war.
Trinkwasserversorger entsetzt
Trotz dieser Einwände: Bei den Trinkwasserversorgern stösst das bürgerliche Manöver auf Unverständnis. In ihrem Auftrag, für gesundes Trinkwasser zu sorgen, sind sie bereits durch Chlorothalonil vor eine nahezu unlösbare Aufgabe gestellt. Martin Sager, Direktor des Schweizerischen Vereins des Gas- und Wasserfaches (SVGW), ruft den Nationalrat unmissverständlich auf, den Entscheid seiner vorberatenden Kommission zu korrigieren. Denn, so Sager: «Das Trinkwasser ist unser wichtigstes Lebensmittel.» Seine Forderung: Die Politik müsse den nachhaltigen Schutz des Grundwassers garantieren.
Nebst den Versorgern plädieren auch weitere gewichtige Akteure gegen eine Abschwächung des Gewässerschutzes, so etwa die IG Detailhandel, die Coop und Migros vertritt. In ihrer Stellungnahme lehnt es die Interessengemeinschaft ab, «den Trinkwasserschutz gegenüber der heutigen Regelung sogar noch aufzuweichen». Ein Schreiben des Kantons Zürich an die Parlamentarier, das SonntagsBlick vorliegt, vertritt die gleiche strikte Position.
Ob derlei Appelle bei den Bürgerlichen Gehör finden, wird sich am 2. Dezember zeigen: Dann berät der Nationalrat über die Vorlage. Und da sich Grüne, SP und Grünliberale für einen strengeren Schutz vor Pestiziden aussprechen, dürfte die FDP das Zünglein an der Waage spielen.
Jene Partei also, die vor eineinhalb Jahren den Umweltschutz als «Teil ihrer DNA» identifizierte. Und damit in die Wahlen zog.