Wermuth und Meyer im Interview
«Pandemie hat gezeigt, wer Wohlstand schafft»

Heute Samstag lanciert die SP an ihrem Parteitag in St. Gallen zwei Volksinitiativen. Im Blick-Interview sagt das Führungs-Duo Mattea Meyer und Cédric Wermuth, worum es dabei geht.
Publiziert: 28.08.2021 um 11:00 Uhr
|
Aktualisiert: 18.09.2021 um 18:32 Uhr
1/7
Mattea Meyer und Cédric Wermuth, die beiden Co-Präsidenten der SP, wollen den Begriff Freiheit nicht den Bürgerlichen überlassen.
Foto: keystone-sda.ch
8 - Adrien Schnarrenberger - Journaliste Blick.jpeg
Adrien Schnarrenberger

Die SP-Delegierten erwartet beim Parteitag in St. Gallen ein volles Programm. Die Partei will zwei Volksinitiativen lancieren, wie die Co-Präsidenten Mattea Meyer (33) und Cédric Wermuth (35) im Blick ankündigen.

Zum einen geht es um den Finanzplatz Schweiz, den die SP «ökologisch und solidarisch» gestalten will. Das zweite Thema ist die Kinderbetreuung. Die Partei mit der Rose fordert Zugang zu externer Kinderbetreuung überall im Land. «Das ist unsere Antwort auf die SVP, die Stadt und Land spalten will», erklärt Wermuth.

Blick: Es ist fast einen Monat her, dass SVP-Präsident Marco Chiesa Sie als «Schmarotzer» und «Luxussozialisten» bezeichnet hat. Bis jetzt wartet man vergeblich auf eine Reaktion von Ihnen ...
Cédric Wermuth: Das ist eines der Probleme der heutigen Medienlandschaft: Jede anekdotische Provokation der SVP ist die Nachricht der Woche. Marco Chiesa hat versucht, einen Brand zu legen, indem er Unterschiede in der Bevölkerung betont, um sie besser spalten zu können. Unsere Antwort ist inhaltlich: Wir wollen zur Partei der Freiheit werden – und fangen heute auf dem Parteitag damit an.

Freiheit? Ein Begriff, den man eher mit SVP und FDP verbindet.
Wermuth: Das ist Teil unserer Überlegungen: Dieser Begriff wurde uns von den Rechten gestohlen, während die Freiheit historisch gesehen die raison d'être des Sozialismus und der SP ist. Unser Kampf ist es ja, die Freiheit für alle zugänglich zu machen. Ein grosser Teil der Bevölkerung verfügt über wenig Ressourcen und geniesst nur kollektive Freiheiten – Sozialstaat und Service public –, aber keine individuelle Freiheit.

Macht es Sinn, auf einem Feld zu kämpfen, das bereits gut besetzt ist?
Mattea Meyer: Es ist keine Frage des Marketings, sondern des Inhalts. Für die Rechten ist die Freiheit ein Privileg der bereits Privilegierten. Menschen ohne Pass, Frauen, sexuelle Minderheiten: All diese Gruppen haben wenig Freiheit. Es liegt in der DNA der SP, für sie zu kämpfen. Das Recht auf freie Wahl des Ehemannes und das Recht auf eine AHV sind sozialistische Errungenschaften.

Chiesas Worte waren «ein bisschen hart», wie er selbst zugab, aber sie haben einen wahren Kern: Die SP ist in den Städten sehr erfolgreich, auf dem Land weit weniger. Wie wollen Sie das ändern?
Meyer: Mit der Kluft zwischen Stadt und Land will Marco Chiesa die wirklichen Brüche in diesem Land verbergen, nämlich die Einkommensunterschiede. Wir werden für Kinderbetreuung, anständige Löhne und Gehälter und bezahlbare Mieten in den Städten und auf dem Land kämpfen. Es spielt keine Rolle, wo man wohnt.
Wermuth: Ich komme aus dem Aargau, einem Kanton, in dem wir keine richtige Stadt haben. Marco Chiesa mag die «Luxussozialisten in den Städten» angreifen, aber was er wirklich angreift, ist die Infrastruktur, die in den Städten besser entwickelt ist. Doch das ist nicht die Schuld der Städte – in diesem Land wird der Service public hauptsächlich in den Zentren ausgebaut, wo mehr Menschen leben.

Mattea Meyer

Nach dem Rücktritt von Christian Levrat (51) übernahmen Mattea Meyer (33) und Cédric Wermuth (35) den SP-Chefposten. Die beiden sind schon seit Juso-Zeiten ein eingespieltes Duo. 2015 wurde die Zürcherin in den Nationalrat gewählt und sitzt derzeit in der Sozial- und Gesundheitskommission. Politisch engagiert sie sich auch stark in Steuerfragen oder der Flüchtlingspolitik. Meyer studierte Geschichte, Geografie und Politikwissenschaften an der Universität Zürich und arbeitet als Präsidentin des SAH-Netzwerks, das sich für berufliche und soziale Integration von Geflüchteten und Erwerbslosen starkmacht. Mit ihrem Partner und ihrer Tochter lebt sie in Winterthur ZH.

Nach dem Rücktritt von Christian Levrat (51) übernahmen Mattea Meyer (33) und Cédric Wermuth (35) den SP-Chefposten. Die beiden sind schon seit Juso-Zeiten ein eingespieltes Duo. 2015 wurde die Zürcherin in den Nationalrat gewählt und sitzt derzeit in der Sozial- und Gesundheitskommission. Politisch engagiert sie sich auch stark in Steuerfragen oder der Flüchtlingspolitik. Meyer studierte Geschichte, Geografie und Politikwissenschaften an der Universität Zürich und arbeitet als Präsidentin des SAH-Netzwerks, das sich für berufliche und soziale Integration von Geflüchteten und Erwerbslosen starkmacht. Mit ihrem Partner und ihrer Tochter lebt sie in Winterthur ZH.

Was ist Ihr Rezept dagegen?
Wermuth: Was auf dem Land gut ist – niedrigere Mieten, direkter Zugang zur Natur und so weiter – sollte ausgeweitet und in die Stadt gebracht werden. Das Gleiche gilt umgekehrt. Das Beste aus beiden Welten sollte zusammengeführt und auf das ganze Land übertragen werden.

Menschen, die auf dem Land leben, brauchen ein Auto. Gehört das auch zum Freiheitsbegriff der SP?
Meyer: Natürlich geht es nicht darum, das Auto zu verbieten. Es geht um den Ausbau des öffentlichen Verkehrs für alle, insbesondere in den Randregionen. Dies ist konkrete Klimapolitik, die das Leben der Menschen wirklich verbessert.
Wermuth: Allerdings kann man das schon diskutieren: Welchen Wert hat meine persönliche Freiheit, die Umwelt viel zu verschmutzen, im Vergleich zu jeder Freiheit der zukünftigen Generationen oder der Menschen in anderen Ländern?

Vom Klima-Thema profitieren derzeit vor allem die Grünen. Haben Sie Angst vor dieser Konkurrenz?
Meyer: Unsere beiden Parteien haben unterschiedliche Perspektiven und Geschichten, aber wir sind in fast allen Fragen verbündet. Wir müssen uns zusammentun, um gegen Rechts zu kämpfen. Gemeinsam sind wir stärker, und wir haben keine Zeit für Konflikte oder rot-grüne Konkurrenz.

Klimaschutz, Minderheitenpolitik – Ist die SP die Partei der Luxuslinken, wie Chiesa behauptet? Was bleibt von der Stimme der Arbeiterklasse?
Wermuth: Die Behauptung, dass die SP nicht mehr von den Arbeitern gewählt wird, ist ein Mythos. Unsere Strategie ist ausserdem nicht, Politik für eine bestimmte Zielgruppe zu machen, sondern Lösungen für die Mehrheit der Gesellschaft vorzuschlagen. Im Gegensatz zu unseren Genossen in Deutschland, Italien oder Frankreich haben wir die soziale Frage nie aufgegeben – dies ist ein grosser Verdienst der Präsidentschaft von Christian Levrat.

Apropos soziale Gerechtigkeit: Die 99%-Initiative der Juso steht unter keinem guten Stern.
Meyer: Ich sehe das anders: Laut Umfragen gibt es fast eine Mehrheit für eine Initiative, die von den Jungsozialisten kommt. Das ist ein tolles Ergebnis. Realistisch betrachtet wird es schwierig sein, die Abstimmung zu gewinnen, vor allem angesichts der intensive Kampagne von rechts, der Fake News verbreitet. Etwa wenn sie behauptent, dass jedes KMU betroffen ist, während wir nur von Steuerzahlern mit mehr als drei Millionen Franken sprechen. Diese Unterstützung ist ermutigend und zeigt, dass viele Menschen in diesem Land nicht mehr akzeptieren, dass nur multinationale Konzerne und Reiche profitieren.

Cédric Wermuth

Der Aargauer Cédric Wermuth (35) stieg 1999 beiden Jungsozialisten ein, deren Präsident er 2008 wurde. 2009 zog er ins Badener Stadtparlament ein, 2011 in den Nationalrat. Seit dem 17. Oktober 2020 ist er Co-Präsident der SP Schweiz. Er studierte Politologie und arbeitet für eine Kampagnenagentur. Er ist verheiratet, Vater zweier Kinder und lebt in Zofingen AG.

Der Aargauer Cédric Wermuth (35) stieg 1999 beiden Jungsozialisten ein, deren Präsident er 2008 wurde. 2009 zog er ins Badener Stadtparlament ein, 2011 in den Nationalrat. Seit dem 17. Oktober 2020 ist er Co-Präsident der SP Schweiz. Er studierte Politologie und arbeitet für eine Kampagnenagentur. Er ist verheiratet, Vater zweier Kinder und lebt in Zofingen AG.

Die Initiative gefährdet das Schweizer Erfolgsmodell. Wie soll dann noch der von Ihnen erwähnte Service public finanziert werden?
Wermuth: Während dieser Pandemie haben wir gesehen, wer in diesem Land wirklich Wohlstand schafft. Fragen Sie sich, was gefährlicher ist: eine Woche ohne Gesundheitsversorgung und Sozialstaat oder eine Woche ohne die Banken? Der Service public ist die Grundlage der Wertschöpfung. Es sind nicht die Manager in Gucci oder Prada, sondern die Menschen, die jeden Tag um acht Uhr morgens aufstehen, um den Haushalt zu machen, die Kinder zu erziehen, all das zu tun, was man unter dem Begriff «Care» fasst. Diese wichtige Botschaft müssen wir vermitteln.

Sie kündigen eine Volksinitiative zur Kinderbetreuung an. Was ist das Ziel?
Wermuth: In der Agglomeration Aargau, wo ich wohne, ist es sehr schwierig, einen Krippenplatz zu finden. Das zwingt Sie zu einem konservativen Lebensstil, bei dem eine Person zu Hause ist. Nehmen wir meinen persönlichen Fall: Wir haben zwei Kinder, und die Betreuung für zwei Tage pro Woche kostet ohne Subvention 25'000 Franken pro Jahr – was fair ist, weil wir ein gutes Einkommen haben. Das ist fast das gesamte Gehalt einer Teilzeitkraft. Die Kinderbetreuung ein gutes Beispiel dafür, was bei der sozialen Gerechtigkeit falsch läuft und was unsere Initiative korrigieren will.

Das heisst?
Meyer: Als junge Mutter habe ich selbst gesehen, dass die Löhne für Kinderbetreuer inakzeptabel tief sind: 3'500 Franken sind ein Skandal. Tagesmütter und -väter betreuen unser wertvollstes Gut, unsere Kinder. Diese Gehälter, während die Bosse der Tech-Konzerne Millionen verdienen, sind ein Zeichen dafür, wie wir unsere Kinder behandeln. In unseren Kindertagesstätten gibt es kaum jemanden, der älter als 25 Jahre ist, weil er eine andere Arbeit finden muss, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Dasselbe gilt für die Pflege und die Krankenhäuser. Die Gehälter stehen in keinem Verhältnis zu den Aufgaben.

In zwei Jahren sind Wahlen. Wie fällt Ihre Zwischenbilanz über die bisherige Legislatur aus?
Meyer: Wir haben nicht alle kantonalen Wahlen gewonnen, aber wir bleiben optimistisch. Das ist nicht zuletzt den Abstimmungen zu verdanken: Obwohl wir in der Mehrheit der Kantone gescheitert sind, hat das Volk Ja gesagt zur Konzernverantwortungs-Initiative. Das ist erfreulich. Und für alle wichtigen Themen der Zukunft – Covid, AHV – haben wir Lösungen für die Bevölkerung.

Letzte Frage: Die SP wird als einzige Partei von einem Duo geführt – auch bei der FDP versucht man es lieber mit einer Person. Sind Sie zufrieden mit dem Modell?
Wermuth: Auf jeden Fall! Ich bin fest davon überzeugt, dass dies das Modell der Zukunft ist. Ich hätte diese Aufgabe nicht allein übernommen, schon gar nicht als junger Vater. Es überrascht mich nicht, dass die FDP eine andere Entscheidung getroffen hat, aber die Zeiten, in denen männliche Helden grosse Führungspersönlichkeiten waren, sind in meinen Augen vorbei. Es braucht demokratischere Mechanismen, wie es sie in der feministischen Bewegung oder der Klimabewegung gibt. Daher hoffe ich, dass sich diese Arbeitsweise sowohl in der Politik als auch im Berufsleben durchsetzen wird. Auch wenn es ein bisschen kompliziert ist, eine Rede wie die für den Parteitag am Samstag zu schreiben, und es zwei Wochen dauert (lacht).

Fehler gefunden? Jetzt melden