Unser Planet wird immer wärmer. Unwetter, steigende Meeresspiegel, Hungerkrisen, neue Gletscherseen – die Liste der Auswirkungen ist lang. Und teils unerwartet. Denn der Klimawandel beeinflusst auch Landesgrenzen.
Zum Beispiel an der 800,2 Kilometer langen Grenze der Schweiz zu Italien, die mit den Gletschern einfach wegschmilzt. Beziehungsweise sich verschiebt.
Klare Grenzen schaffen Klarheit
Das betrifft allerdings nur hochalpines Gebiet, das ohnehin nicht bewohnt ist. Ist es denn da überhaupt wichtig, wo genau die Grenze liegt? Ja, sagt Alain Wicht (52), beim Bundesamt für Landestopografie (Swisstopo) zuständig für den Verlauf der Schweizer Landesgrenze.
Einerseits müssten Länder klar definiert sein. «Wenn ein Unfall passiert, stellt sich die Frage, wer überhaupt zuständig ist», nennt Wicht einen Grund. Wenn Zuglinien oder Strassen über die Alpen führen, müsse klar sein, ob man sich beim Bau und Unterhalt an italienische oder schweizerische Reglemente halten müsse.
In seltenen Fällen ist die Landesgrenze auch für die Mehrwertsteuer relevant. Wie zum Beispiel im Fall der Testa-Grigia-Hütte im Skigebiet oberhalb von Zermatt VS. Weil der Gletscher rund um die Berghütte in vergangenen Jahren stark geschmolzen ist, müssen die Schweiz und Italien den Grenzverlauf neu aushandeln.
Grenzen sind auch dem Klimawandel ausgeliefert
Grund dafür ist die sogenannte Wasserscheide-Regel. Diese besagt, dass im Gebirge die Wasserscheide, also der Bergkamm, die Grenze bestimmt. Die Testa-Grigia-Hütte würde deshalb nun eigentlich zum grossen Teil in der Schweiz liegen. Dazu muss man wissen: Gut zwei Drittel der knapp 2000 Kilometer langen Schweizer Grenze bilden natürliche Grenzen, wie Seen, Flüsse, Berge. Dort wo es keine natürliche Grenze gibt, markieren rund 7000 Grenzsteine die künstliche Grenzlinie. Diese ist einigermassen fix. Doch die natürlichen Grenzen verändern sich stetig, durch Felsstürze, Unwetter – oder eben den Klimawandel.
Giuseppe di Giacomo, Hüttenwirt auf dem Testa Grigia, kann damit nicht viel anfangen. «Das sind theoretische Überlegungen», sagte er gegenüber dem «Walliser Boten». «Die Hütte hat sich ja nicht bewegt. Sie steht seit je auf diesem Felsen, und der gehört zu Italien.»
Verhärtete Fronten im schmelzenden Eis
Italien und die Schweiz können sich seit bald zwei Jahren noch nicht einigen, auf wessen Boden die Hütte jetzt steht. Das hat auch damit zu tun, dass bei jeder Grenzänderung viele Stellen aus beiden Ländern involviert sind. Mit jedem Nachbarland gibt es eine gemischte Kommission, mit Vertretern aus den jeweiligen Ländern. Auf Schweizer Seite sitzen darin Vertreterinnen und Vertreter von Swisstopo, vom Aussendepartement, von der Zollverwaltung und Kantonsgeometerinnen und -geometern der angrenzenden Kantone. Auch Italien entsendet seine entsprechenden Fachleute.
«Testa Grigia ist schon eher eine Ausnahme», sagt Wicht. Auch in anderen Fällen würden die Prozesse zwar dauern, aber intensive Diskussionen wie hier gebe es selten.
Zwei Jahrzehnte zuvor ereignete sich an der schweizerisch-italienischen Grenze am Furggsattel oberhalb von Zermatt ein ähnlicher Fall: Mit dem Rückzug des Theodulgletschers im Jahr 2000 musste auch dort die Grenze korrigiert werden. Seither befindet sich die Sesselbahnstation auf Schweizer Gebiet.
Unter dem Strich wächst die Schweiz
Doch welche Ausmasse haben die Grenzveränderungen? Das weiss auch Wicht nicht genau. Denn anders als bei der Anpassung von künstlichen Grenzen, wo immer ein Gebietstausch stattfinde – man bekommt genau so viel, wie man abgeben muss – führt man bei der Anpassung von natürlichen Grenzen nicht Buch. «An gewissen Stellen hat die Schweiz an Gebiet gewonnen, an anderen verloren.»
Zumindest, wenn es um Gebietsgewinne geht, dürfte die Schweiz insgesamt jedoch vom Klimawandel profitieren: Die Gletscher befinden sich vorwiegend an den Nordhängen. Schmelzen sie, verschiebt sich die Wasserscheide Richtung Süden – die Fläche der Schweiz dehnt sich aus.
Mit dem zunehmenden Gletscherschwund kommen auf Alain Wicht schwierige Zeiten zu. Denn überall dort, wo Gletscher Grenzen markieren, wird seine Arbeit die nächsten Jahre stärker denn je gefragt sein. Nachdem er die vergangenen Tage in den Bergen rund um Zermatt verbracht hat, ist sein Fazit zum Gletscherschwund: «Es ist so schlimm wie noch nie.»