Weniger Sozialhilfe ausbezahlt – das sind die Gründe
«Viele Leute schämen sich, arm zu sein»

Die Ausgaben für die Sozialhilfe sind 2022 markant gesunken. Was das heisst, erklärt der Geschäftsführer von SOS Beobachter.
Publiziert: 28.03.2024 um 18:00 Uhr
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Die Ausgaben für wirtschaftliche Sozialhilfe sind im Jahr 2022 gegenüber dem Vorjahr um 9,2 Prozent gesunken.
Foto: keystone-sda.ch
Andri Gigerl
Beobachter

Es sind überraschende Zahlen: Die Ausgaben für wirtschaftliche Sozialhilfe sind im Jahr 2022 gegenüber dem Vorjahr um 9,2 Prozent gesunken. Weniger Personen beziehen sie, und die Ausgaben pro Bezüger haben deutlich abgenommen. Das erklärte das Bundesamt für Statistik kürzlich.

Doch was sagen diese Zahlen aus? Die Stiftung SOS Beobachter unterstützt armutsbetroffene Menschen, wo es die öffentliche Hand nicht tut – und hat so einen Einblick in die Realität derer, denen das Geld nicht zum Leben reicht. Beat Handschin, Geschäftsführer der Stiftung, ordnet ein.

Sinkende Ausgaben und weniger Bezügerinnen bei der Sozialhilfe 2022 – geht es den Armen in der Schweiz besser?
Beat Handschin: Nein, diesen Schluss halte ich leider für voreilig. Aus den Zahlen des Bundes allein kann man nicht einfach folgern, dass es grundsätzlich weniger Armut gibt.

Weshalb?
Nur weil wir weniger Ausgaben und weniger Bezügerinnen und Bezüger haben, heisst das nicht, dass es auch weniger Leute gibt, die ein Anrecht auf Sozialhilfe haben. Das sehen wir in unserer Arbeit jeden Tag: Viele verzichten freiwillig auf Sozialhilfe oder sind als sogenannte Working Poor ganz knapp nicht anspruchsberechtigt. Das alles erfassen die veröffentlichten Zahlen aber nicht.

Wer verzichtet freiwillig auf Hilfe?
Wir sehen dafür hauptsächlich zwei Gründe. Zum einen ist Armut nach wie vor stark stigmatisiert. Viele schämen sich, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen. Personen, die keine Schweizer Staatsbürgerschaft haben, riskieren zudem, dass sie Probleme mit der Aufenthaltsbewilligung oder der Einbürgerung bekommen, wenn sie Sozialhilfe beziehen. Sie verzichten deshalb oft aus Angst auf Unterstützung durch die öffentliche Hand und leben vereinzelt weit unter dem Existenzminimum.

Die Zahlen zeigen auch 6,2 Prozent weniger Ausgaben pro Bezüger. Dabei sind mit Inflation und Energiekrise die Lebenshaltungskosten 2022 eigentlich gestiegen.
Das dürfte unter anderem auch daran liegen, dass solche alltäglichen Kosten oft nicht bei der Sozialhilfe landen. Das meiste müssen die Leute selbst auffangen. Eine höhere Stromrechnung muss zum Beispiel aus dem Grundbedarf bezahlt werden und belastet die Sozialausgaben nicht direkt. Die Betroffenen spüren das aber natürlich im Portemonnaie. Dazu passt auch, dass Sozialdienste sehr restriktiv sind und es wenig Spielraum gibt. Es wird häufig auf Kosten der Betroffenen gespart.

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Wo sehen die Sozialdienste da überhaupt Sparmöglichkeiten?
Es gibt dafür viele Beispiele. Oft werden etwa Kurse oder Weiterbildungen nicht bezahlt. Obwohl diese Armutsbetroffenen helfen würden, ihre finanzielle Situation langfristig zu verbessern. Oder es wird wenig Kulanz gezeigt, wenn sich jemand zu spät bei der Sozialhilfe meldet, vielleicht aber schon eine Mietzinszahlung ausstehend hat. Aber das ist von Gemeinde zu Gemeinde natürlich sehr verschieden.

Muss sich politisch etwas ändern?
Das ist schwierig. Man kann sich sicher fragen: Ist es korrekt, dass Menschen negative Konsequenzen befürchten müssen bei Sozialhilfebezug, etwa für ihre Aufenthaltsbewilligung? Ich würde mir aber vor allem auch gesellschaftlich eine Veränderung wünschen.

Welche denn?
Dass Armut kein Stigma mehr ist. Viele Leute schämen sich heute dafür, dass sie arm sind. Und da möchte ich klarstellen: Armut kann jede und jeden treffen, das sehen wir immer wieder. Man muss sich nicht dafür schämen. Aber an der gesellschaftlichen Grundstimmung muss sich etwas ändern. Damit Betroffene auch wirklich die Leistungen in Anspruch nehmen, die ihnen zustehen.

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