Weil niemand stehen bleibt
Initiativen fallen Corona zum Opfer

Unterschriftensammeln auf der Strasse war monatelang fast unmöglich. Polit-Aktivist Oswald Sigg sieht die direkte Demokratie in Gefahr.
Publiziert: 04.07.2021 um 15:28 Uhr
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Aktualisiert: 05.07.2021 um 18:25 Uhr
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Über Monate hiess es: Abstand halten, Kontakte einschränken.
Foto: Peter Gerber
Camilla Alabor

Schlechter hätte das Timing nicht sein können: Am 25. Februar 2020 sollte der Startschuss der Volksinitiative für eine Mikrosteuer fallen – genau an diesem Tag registrierte die Schweiz ihren ersten Corona-Fall.

Und als das Initiativkomitee um Oswald Sigg (77) Anfang März an drei Orten zur Pressekonferenz bat, um die Öffentlichkeit zu informieren, machte ihnen Corona einen Strich durch die Rechnung: Gerade mal vier Journalisten fanden sich ein, um über die Vorlage zu berichten. Die Aufmerksamkeit der Medien – und der Bürger – war ganz woanders. Sie ist es geblieben.

Der ehemalige Vizekanzler und Bundesratssprecher Sigg hält das für ein Problem. Denn um das angepeilte Ziel von 110'000 Unterschriften zu erreichen, fehlen dem Initiativkomitee noch immer rund 50' 000 Unterstützer. Doch ihm läuft die Zeit davon: In vier Monaten endet die Sammelfrist. Schuld an der Misere sei die Pandemie, sagt Sigg. Aber auch der Bundesrat.

«Die Regierung geht davon aus, dass ein normales Unterschriftensammeln möglich ist», sagt Sigg. «Das entspricht nicht der Realität.» Mit Maske und Abstand sei es während der vergangenen zwölf Monate praktisch unmöglich gewesen, mit Stimmbürgern auf der Strasse ein Gespräch zu führen. Es bringe auch nichts, Leute vor den Stimmlokalen anzusprechen, da die Behörden zur brieflichen Stimmabgabe aufgerufen hätten.

Initiativen scheitern schon im Sammelstadium

Aber auch das Unwissen der Bürger macht Sigg und seinen Gspänli zu schaffen. «Wegen der fehlenden Berichterstattung wissen die Leute gar nicht, worum es bei der Mikrosteuer-Initiative geht», sagt Sigg. Das erschwere die Unterschriftensammlung zusätzlich.

Im Kern fordern die Initianten eine Ministeuer auf jede finanzielle Transaktion, von der Bezahlung eines Kaffees bis zum Aktienhandel. Sie soll Mehrwertsteuer, Bundessteuer und Stempelsteuer ersetzen – und dafür Banken und Trader zur Kasse bitten.

Angesichts der düsteren Aussichten für seine Vorlage sieht Sigg das politische System der Schweiz in Gefahr. «Die direkte Demokratie ist Corona zum Opfer gefallen», sagt der Mann, der bereits die Initiative für ein Grundeinkommen an die Urne gebracht hat – und verweist auf acht weitere Initiativen, die im Lauf des letzten Jahres im Sammelstadium scheiterten oder zurückgezogen wurden.

Ein Bürgerkomitee hat es organisatorisch schwieriger

Andererseits gibt es gleich drei Komitees, die trotz Pandemie voraussichtlich genügend Unterschriften gesammelt haben. Mittlerweile beglaubigt ist die Initiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes für eine 13. AHV-Rente. Zudem haben die Jungfreisinnigen bereits 137'000 Unterschriften für ihre Initiative zur Erhöhung des Rentenalters gesammelt, wie sie am Freitag bekannt gaben. Und nicht zuletzt wird am Montag ein Bürgerkomitee die Unterschriften für eine Initiative einreichen, die eine Haftung von Mobilfunkbetreibern vorsieht: Laut Initiant Felix Hepfer ist man «zuversichtlich», genügend gültige Unterschriften beisammen zu haben.

Auch mehrere Referenden sind trotz Pandemie zustande gekommen – zum Teil mit deutlich mehr als den 50'000 benötigten Unterschriften.

Macht es sich Sigg also zu einfach? Hat sich sein Initiativkomitee schlicht nicht breit genug aufgestellt? Oder ist das Anliegen gar zu wenig populär? Sigg räumt ein, dass die Komplexität des Themas das Sammeln nicht leichter mache: «Als wir Unterschriften für ein Grundeinkommen sammelten, wussten die Leute sofort, worum es geht.»

Den Vorwurf, man sei nicht breit genug aufgestellt, weist Sigg hingegen zurück. «Wir sind ein überparteiliches Komitee», sagt er. «Aber eben auch ein Bürgerkomitee.»

Gewerkschaften und Parteien im Vorteil

Tatsächlich dürfte dies dafür entscheidend sein, dass etwa der Gewerkschaftsbund seine Initiative für eine 13. AHV-Rente trotz Pandemie locker zustande gebracht hat: Die Gewerkschaften können dank ihren Mitglieden auf eine grosse Adresskartei zurückgreifen. Der mehrfache Versand von Unterschriftenbögen habe geholfen, einen Teil jener Unterschriften zu kompensieren, die man nicht auf der Strasse sammeln konnte, sagt Sprecher Urban Hodel (35).

Die Jungfreisinnigen wiederum konnten auf die Hilfe ihrer Mutterpartei zählen, als es ums Verschicken von Unterschriftenbögen ging. Und es gelang ihnen, die JSVP mit ins Boot zu holen. «Vor allem aber haben wir eine sehr aktive Basis, die fleissig gesammelt hat», erklärt Präsident Matthias Müller (28) den Erfolg.

Oswald Sigg und seine Truppe dagegen sind weitgehend auf sich gestellt. «Obwohl wir am Anfang positive Signale erhielten, unterstützt uns leider keine Partei», bedauert das SP-Mitglied.

Dies dürfte auch damit zu tun haben, dass eine Mikrosteuer auf Finanztransaktionen für keine Partei, keinen Verband ein zentrales Anliegen ist. Polit-Aktivist Sigg zählt deshalb darauf, die fehlenden Unterschriften doch noch auf der Strasse zu sammeln.

Und wenn auch von den Parteien kein Support kommt, steht zumindest das Wetter den Initianten derzeit hilfreich zur Seite.

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