Paul Rechsteiner (65) begrüsst am Freitagvormittag kurz nach 10 Uhr die anwesenden Journalisten zum kurzfristig angesetzten Point de Presse. «Aus dramatischem Anlass», wie der Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) präzisiert.
Im Schlepptau hat Rechsteiner SP-Kollege Adrian Wüthrich (38) von Travailsuisse, Vania Alleva (49), Präsidentin der Unia, Hans Maissen, Vizepräsident der Syna, und Daniel Lampart, Chefökonom beim SGB – die geballte Ladung Arbeitnehmervertreter also. Ein lautes Signal wolle man aussenden. «Der Zug der Verhandlungen über ein Rahmenabkommen ist entgleist», sagt Rechsteiner.
Cassis stellt flankierende Massnahmen in Frage
Aussenminister Ignazio Cassis (57) hatte am Mittwoch verlauten lassen, dass er in Betracht ziehe, bei den Verhandlungen über das Rahmenabkommen mit der EU die flankierenden Massnahmen aufzuweichen (BLICK berichtete). Obwohl der Bundesrat die Bestimmungen zum Schutz der Löhne und Arbeitsbedingungen stets als rote Linien bezeichnet hatte.
Der EU sind diese schon seit langem ein Ärgernis. Besonders die Acht-Tage-Regel, bei der der FDP-Magistrat «kreative Lösungen» ausmacht, will die EU gelockert haben. Die Regel sieht vor, dass ausländische Unternehmen einen Arbeitseinsatz in der Schweiz mindestens acht Tage im Voraus bei der kantonalen Behörde anmelden müssen. Deren Kontrollinstanzen prüfen dann das Risiko möglicher Verletzungen der Flankierenden, beispielsweise durch Lohndumping.
Die EU lobte Cassis für dessen Äusserungen, wie die «Aargauer Zeitung» am Freitag schrieb. Auch Elisabeth Schneider-Schneiter (54, CVP), Präsidentin der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats, stärkt Cassis den Rücken, wie Radio SRF am selben Tag berichtete.
Ohne Acht-Tage-Regelung sind Kontrollen nicht mehr möglich
Alarmstufe Rot bei den Gewerkschaften. «Die flankierenden Massnahmen waren, sind und bleiben die Bedingung für den bilateralen Weg», macht Rechsteiner deutlich. Gerade die Acht-Tage-Regelung sei ein entscheidender Eckpfeiler gegen Lohndumping.
IMAGE-ERROR (inline_image_7931827830087475124)Cassis stellt just diese Forderung in Frage. Der FDP-Bundesrat könne sich eine Verkürzung auf vier Tage vorstellen. Dies hätte laut den Gewerkschaftsvertretern zur Folge, dass die Anträge faktisch nicht mehr kontrollierbar wären – besonders die Tausenden Kurzeinsätze in grenznahen Regionen. Es käme zu Wildwuchs bei den Arbeitsbedingungen und zu Lohndumping, sagt Syna-Vize Maissen.
Rechsteiner: «Es sind Ignoranten am Werk»
Acht Tage seien daher eine vernünftige Frist und dringend einzuhalten. «Die Grundsatzkritik an der Frist ist unbegründet», resümiert Lampart. In kein anderes Land fänden so viele sogenannte «Entsendungen» statt wie in die Schweiz. «Das zeigt: die Acht-Tage-Frist ist kein Hindernis.» Und dort, wo es konkrete Probleme mit der Frist gebe, würden mit den Betroffenen auch erfolgreich Lösungen gefunden.
Auch Unia-Chefin Alleva schimpft über die Attacken auf die Flankierenden, die ihrer Ansicht sogar noch ausgebaut werden müssten. «Die Technokraten in der EU und Politiker wie Cassis sind weit weg von der Realität. Sie haben keine Ahnung, worum es geht!» Mit seinen Aussagen habe Cassis ein grobes Foul begangen und viel Vertrauen verloren, meint Rechsteiner. Die Flankierenden sind unverhandelbar. «Es sind Ignoranten am Werk, die behaupten, dass die EU über ähnliche Schutzmechanismen für die Arbeitnehmer verfügt.»
EU-Klausur soll Klärung über Flankierende bringen
Die Gewerkschaften wollen dem FDP-Bundesrat nun ganz genau auf die Finger schauen. Ob der Gesamtbundesrat sein Verhandlungsmandat anpasst und die flankierenden Massnahmen zum Abschuss freigibt, wird die EU-Klausur am 27. Juni zeigen. Cassis' Aussendepartement derweil rudert in einer Stellungnahme zurück und hält daran fest, dass die Flankierenden Bestandteil der roten Linien seien. Es gelte die Bestimmungen in der Substanz zu verteidigen.