Als Kind habe sie selten zum Arzt gemusst, sagt die Zürcher FDP-Nationalrätin Regine Sauter (57). «Das ist natürlich ein Privileg.» Heute ist Sauter als Präsidentin des Spitalverbands H+ regelmässig in Spitälern in der ganzen Schweiz zu Gast. Wie etwa diese Woche bei den psychiatrischen Kliniken in Chur, wo sie jeweils auch die Vertreter anderer Spitäler in der Region trifft und sich deren Sorgen anhört. «Momentan tönt es überall gleich: Die Belastung – personell und finanziell – ist riesig.»
Die Leute gehen ins Spital wie zum Shopping. Das sagt der CEO der Basler Kinderspitäler. Was halten Sie von der Aussage?
Regine Sauter: Die ist etwas sehr zugespitzt.
Aber etwas ist dran?
Wir stellen schon fest: Die Leute kommen heutzutage viel schneller und öfter in den Notfall. Obwohl viele von ihnen da nicht hingehören.
Woran liegts?
Da gibt es mehrere Gründe: Zum einen haben immer weniger Patientinnen und Patienten einen Hausarzt. Gerade Menschen aus anderen Kulturen kennen dieses Konzept nicht. Hinzu kommt, dass viele seit Corona verängstigt sind – insbesondere Eltern mit Kindern. Oder sie wissen gar nicht mehr, wie man sich in gewissen Situationen verhält.
Zum Beispiel?
Wenn die Leute sich grippig fühlen, gehen sie ins Spital. Früher hiess es «abwarten und Tee trinken» oder auf andere Hausmittel zurückzugreifen.
Eigentlich erstaunlich im heutigen Zeitalter, wo man doch alle Informationen im Internet findet!
Ja, aber direkt ins Spital zu gehen, ist halt bequem. Gleichzeitig rufen die Leute aus, wenn sie mit einer harmloseren Diagnose nicht schnell behandelt werden. Die Ansprüche ans Gesundheitssystem sind heute enorm, das sehen wir in den Befragungen: Die Patientinnen und Patienten wollen sofortigen Zugang zur Medizin, freie Arztwahl und stets die neusten Medikamente – und das alles ohne steigende Prämien.
Mehr zur Abstimmung am 9. Juni
Immer mehr Menschen gehen ins Spital, und trotzdem verzeichnen das Kinderspital Zürich, das Inselspital Bern, Spitäler in St. Gallen, Wetzikon und andernorts Millionendefizite. Wie kann das sein?
Die Erträge decken die gestiegenen Kosten schlicht nicht. Die Spitäler sind an Tarife gebunden, die nicht der Teuerung angepasst wurden. In den letzten Jahren sind deshalb die Rechnungen vieler Spitäler wegen der gestiegenen Material- und Strompreise und der höheren Personalkosten aus dem Lot geraten. Andere Unternehmen können ihre Preise an die Teuerung anpassen, Spitäler nicht.
Und warum passt man die Tarife nicht an?
Die Krankenkassen zeigen wenig Entgegenkommen. Wir fordern deshalb, dass die Teuerungsanpassung gesetzlich vorgeschrieben wird.
Das Zürcher Kispi bekommt vom Kanton wegen akuter Not ein Darlehen von 100 Millionen Franken. Hauptgrund ist der Neubau der Stararchitekten Herzog & de Meuron mit Kosten von 761 Millionen. Da gibt man doch das Geld falsch aus!
Wenn wir den heutigen Anforderungen in Bezug auf Platz und Qualität entsprechen wollen, sind Neubauten nötig. Nicht nur in Zürich zeigt sich jedoch: Die Spitäler können nicht genügend verdienen, um die nötigen Investitionen aus ihren Erträgen decken zu können.
Herzchirurg Thierry Carrel kritisierte den Zürcher Luxusbau in der «Sonntagszeitung»: Die Fassade sei für Ärzte, Pflegende und Patienten völlig sekundär.
Ich kann zu einzelnen Fällen keine Stellung nehmen. Was aber nicht nur in Zürich das Problem ist: Der Staat unterstützt willkürlich und punktuell Spitäler und lässt andere am langen Arm verhungern. Das führt zu einer totalen Wettbewerbsverzerrung. Nicht Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitskriterien werden an die erste Stelle gesetzt, sondern politische Kriterien.
Das Kispi wurde gerettet, weil es laut Regierung systemrelevant sei.
Diese Beurteilung müssen die Kantone vornehmen. Wir sehen aber schon, dass manche Kantone ihre Spitäler viel stärker subventionieren als andere, und es herrscht darüber zu wenig Transparenz. Die Wirtschaftlichkeit der Leistungen lässt sich so nicht vergleichen. Es braucht eine Anpassung des Tarifsystems.
Dieser Artikel wurde erstmals in der der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.
Dieser Artikel wurde erstmals in der der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.
Es gibt auch Behandlungen – etwa bei Privatpatienten, in der Radiologie, der Kardiologie oder der Orthopädie –, die viel Geld in die Kassen der Spitäler spülen. Da wird eben doch nicht gut gewirtschaftet!
Das ist nur bei einem kleinen Teil der Eingriffe der Fall, in der Grundversorgung schreiben die Spitäler keine schwarzen Zahlen. Zudem wurden den Spitälern in den vergangenen Jahren laufend neue Aufgaben übertragen, die sie nicht verrechnen können. Dazu kamen neue Regulierungen zum Beispiel bezüglich Prozessdokumentation oder Datenerhebung. Die Ärztinnen und Pfleger verbringen heute fast mehr Zeit am Computer als bei den Patientinnen und Patienten – und das bezahlt den Spitälern niemand.
Hätte da nicht das elektronische Patientendossier Erleichterung schaffen sollen?
Ein funktionierendes Patientendossier wäre effektiv ein grosser Gewinn: Spitäler und Arztpraxen hätten alle relevanten Daten auf einen Blick, die Patientinnen und Patienten Zugriff auf ihre Akte. Doch das Konstrukt, das wir jetzt haben, funktioniert nicht. Das hat zum Glück auch der Bundesrat erkannt und arbeitet an einer Revision.
Führend im Bereich Digital Health ist Dänemark. Das skandinavische Land hat zudem seine Spitallandschaft radikal umgebaut. Von 78 Akutspitälern sind noch 21 übrig. Diese werden modernisiert. In der Schweiz gibt es auf ähnlicher Fläche 278 Spitäler. Das sind doch zu viele?
Entscheidend ist nicht, wie viele Spitäler wir haben. Sondern, mit welchem System wir eine hochstehende Versorgung gewährleisten. Was aus wirtschaftlicher Sicht tatsächlich wenig Sinn macht, sind viele kleine Spitäler auf engem Raum, die eine Rund-um-die-Uhr-Vollabdeckung anbieten. Wir müssen die Versorgung grossräumiger denken und in Netzwerken arbeiten, mit einem Zentrum und Aussenstationen für kleine Fälle. Die Herausforderung in der Schweiz ist aber, dass das gesamte System politisch gesteuert ist.
Wieso ist das ein Problem?
Der Staat ist in vielen Kantonen Eigentümer der Spitäler, schreibt aber auch die Leistungen vor und finanziert diese. Diese Mehrfachrolle ist nicht gut. Spitäler müssen nach wirtschaftlichen Kriterien geführt werden können. Aber auch die Stimmbevölkerung hat sich mehrfach für den Erhalt kleiner Spitäler ausgesprochen.
Freier Wettbewerb hiesse, dass es manche Spitäler finanziell nicht schaffen.
Wenn sie nicht wirtschaftlich arbeiten, ja, dann kann das der Fall sein.
In Dänemark bleiben die Patienten im Schnitt drei Tage im Spital. In der Schweiz sind es sechs Tage, also doppelt so lange.
Es werden vor allem noch zu viele Leistungen stationär – also mit Spitalaufenthalt – statt ambulant durchgeführt. Zum Beispiel Leistenbrüche. In Kanada werden rund 80 Prozent der Leistenbrüche ambulant operiert, in der Schweiz sind es gerade mal 40 Prozent. Das Gleiche gilt bei Mandeloperationen. Ambulante Behandlungen sind fast in jedem Fall günstiger als stationäre Behandlungen. Da gäbe es ein grosses Sparpotenzial. Doch aufgrund der heutigen Tarifstruktur sind sie für Spitäler weniger attraktiv, weil sie schlechter abgegolten werden als stationäre Behandlungen. Darum braucht es eine einheitliche Finanzierung und Pauschalen für ambulante Behandlungen.
Eine Erhöhung der Tarife würde heissen, dass die Krankenkassenprämien noch weiter steigen. Wie erklären Sie das jenen, die bereits unter hohen Prämien leiden?
Die Bevölkerung will ein funktionierendes und gutes Gesundheitssystem, zudem schätzt sie dessen hohe Qualität. Dies kostet etwas. Auch das Ja zur Pflegeinitiative führt zu höheren Kosten.
Und was ist mit jenen, die die Prämien nicht tragen können?
Für diese Personen gibt es die Prämienverbilligungen. Das ist ein gutes System.
Für die SP ist das zu wenig: Sie verlangt mit ihrer Initiative, dass niemand mehr als zehn Prozent seines Einkommens für Krankenkassenprämien ausgeben muss.
An den Gesundheitskosten ändert das nichts, es wird einfach mehr Geld ins System gepumpt und es ist unklar, wer das finanzieren soll. Die Kantone. Der Gegenvorschlag nimmt die Kantone bereits in die Verantwortung. Er macht ihnen jedoch Vorgaben, welche Bevölkerungsgruppen unterstützt werden müssen, das ist zielführender.
Die Mitte glaubt nicht daran, dass die Akteure im Gesundheitswesen ein Interesse daran haben, die Kosten zu senken. Darum verlangt sie per Initiative eine Kostenbremse.
Eine Regulierung mehr, welche die Spitäler belasten wird, die das umsetzen müssen. Es käme zu einer Rationierung von Leistungen.
Steigen die Kosten weiter, schwindet das Ansehen der Ärzte, prophezeit Mitte-Chef Gerhard Pfister im «Tages-Anzeiger».
Wieso sollte das so sein? Die Bevölkerung gewichtet die freie Arztwahl sehr hoch und will auch nicht auf Leistungen verzichten. Sie ist sich der Bedeutung unseres hervorragenden Gesundheitswesens bewusst.