Er ist der erste verurteilte islamistische Terrorist der Schweiz: der 28-jährige Schweiz-Türke, der am 12. September 2020 in Morges VD einen Portugiesen (†29) erstach. Inzwischen ist der Täter vom Bundesgericht wegen Mordes zu einer 20-jährigen Haftstrafe verurteilt worden.
Nun stellt sich plötzlich die Frage, ob die Tat hätte verhindert werden können. Wie das Westschweizer Fernsehen RTS am Dienstag berichtete, hätte der Täter wohl nicht auf freiem Fuss sein dürfen.
Hätte in Untersuchungshaft sein müssen
2019 versuchte der Mann, eine Tankstelle in Prilly VD in die Luft zu sprengen – erfolglos. Schon damals seien die Ermittler auf einen möglichen dschihadistischen Hintergrund gestossen. Wegen des versuchten Sprengstoffanschlags sass er in Untersuchungshaft, bis er im Sommer 2020 – drei Monate vor dem Mord in Morges – freigelassen wurden.
Allerdings unter strengen Auflagen: Das Zwangsmassnahmengericht ordnete gemäss RTS 16 Massnahmen an, unter anderem eine nächtliche Ausgangssperre, eine Meldepflicht und das Verbot, eine Waffe zu tragen. Die Abmachung: Verstiesse der Mann gegen eine dieser Auflagen, würde er sofort wieder verhaftet.
Bundesanwaltschaft war informiert
Dies passierte aber nicht, obwohl der Schweiz-Türke mehrere Auflagen nicht erfüllte. Gemäss bislang unveröffentlichter Dokumente, auf die sich RTS beruft, meldete er sich nur vier statt acht Mal bei der Polizei. Auch erschien er zweimal nicht zur Arbeit – er gab an, vergessen zu haben, seinen Wecker zu stellen oder Muskelkater gehabt zu haben.
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Und dennoch wurde er nicht wieder in Untersuchungshaft gesetzt. Dies, obwohl die Bundesanwaltschaft (BA) – sie ist zuständig für Sprengstoff-Attentate – von den Verstössen informiert wurde. Und es Hinweise gab, dass der Mann sich isoliere und sich der islamistischen Ideologie zuwandte.
Polizei fand Testament
Beispielsweise fand die Waadtländer Polizei einen Monat vor dem Attentat in Morges ein handschriftliches Testament mit dem Titel «Im Namen Allahs, des Barmherzigen, des Allerbarmers» in seiner Wohnung. Man hatte ihm einen Besuch abgestattet, weil er seine Auflagen nicht erfüllte.
Auch über dieses Testament war die Bundesanwaltschaft informiert worden. Wie sie darauf reagierte, bleibt offen. Klar ist: Wieder in Untersuchungshaft gesteckt wurde der Mann nicht. Und es gibt noch mehr Ungereimtheiten: Kurz nach dem Mord an dem Portugiesen erklärte die BA, bis zum Tötungsdelikt sei ihr «kein Verstoss gegen die auferlegten Ersatzmassnahmen gemeldet worden, welche eine erneute Inhaftierung gerechtfertigt hätten».
Bundesanwaltschaft schweigt
Auf die RTS-Recherchen angesprochen, hüllt sich die BA in Schweigen. Sie könne wegen des hängigen Strafverfahrens keine Fragen beantworten, teilte sie CH Media mit.
Abgeschlossen ist die Sache damit noch nicht: Denn die Familie des ermordeten Portugiesen prüft, ob sie wegen dieser Versäumnisse Haftungsklage gegen den Bund einreicht. «Es gibt viel Unverständnis bei ihnen», sagte der Anwalt der Familie gegenüber RTS. (sf)