Steht das EU-Rahmenabkommen vor dem Aus?
Vorwärts in die Sackgasse

Das Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union scheint so weit entfernt wie noch nie zuvor. Doch wie konnte es überhaupt dazu kommen?
Publiziert: 12.08.2018 um 02:57 Uhr
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Aktualisiert: 20.09.2018 um 21:20 Uhr
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Das institutionelle Rahmenabkommen mit der EU scheint kurz vor dem Aus zu stehen. Doch wie konnte es überhaupt soweit kommen?
Foto: Keystone
Simon Marti und Florian Wicki

Manchmal besteht Diplomatie schlicht darin, Optimismus zu verbreiten. Ein bisschen komplizierter sei es geworden, sagte Roberto Balzaretti (53) gestern Samstag am Kongress der Auslandschweizer in Visp VS. Der Schweizer Chefunterhändler in Brüssel meinte mit dieser sehr diplomatischen Untertreibung den jüngsten Eklat in der Diskussion über ein Rahmenabkommen mit der Europäischen Union. Und der EU-Botschafter in der Schweiz, Michael Matthiessen (62), versicherte kurz darauf, dass Brüssel die Schweizer Löhne nicht angreifen wolle. Das Problem seien halt die Methoden, die ebendiese Löhne schützen sollen, die flankierenden Massnahmen.

Sonst deutete im Wallis wenig darauf hin, dass der politische Sommerschlaf am Mittwoch mit einem Knall geendet hatte, dass ein Rahmenabkommen mit der EU nun für absehbare Zeit verbaut ist – seit Paul Rechsteiner (65) erklärt hatte, er werde nicht mit Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann (66, FDP) über mögliche Anpassungen dieser flankierenden Massnahmen verhandeln.

Rechsteiners Gesprächsverweigerung

Der St. Galler SP-Ständerat, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), zitierte bei dieser Gelegenheit ein Schreiben aus der Küche des Wirtschaftsdepartements, laut dem eine Arbeitsgruppe Vorschläge ausarbeiten soll, wie die flankierenden Massnahmen EU-konform umgesetzt werden können. Nicht mit uns, donnerte Rechsteiner.

Die Gesprächsverweigerung passt schlecht zu einem Politiker, der seit Jahrzehnten gewohnt ist, zäh mit Arbeitgebern zu streiten. Und er hütete sich, die Passagen, die er aus besagtem Dokument des Wirtschaftsdepartements präsentierte, vollständig wiederzugeben. Stattdessen zitierte er sie höchst selektiv. Der darin enthaltene Hinweis auf den Europäischen Gerichtshof, dessen Überprüfung die Lohnschutzmassnahmen «allenfalls» standhalten müssten, war Grund genug, sich der Diskussion zu verweigern.

Das sass, zumal bis dahin Funkstille herrschte: Viermal hatte Schneider-Ammann in den Tagen zuvor versucht, Rechsteiner per Anruf oder SMS zu erreichen. Vergeblich. Der Sozialdemokrat weilte in den Ferien.

Der Lohnschutz als Knackpunkt

Im Aussendepartement von Bundesrat Ignazio Cassis (57, FDP) klagen Beamte hinter vorgehaltener Hand, die Reaktion der Gewerkschaften sei übertrieben und unverständlich. Immerhin wisse die EU nun, dass die Schweiz vorläufig kaum etwas anbieten könne.

Cassis war angetreten, das EU-Dossier per «Reset-Knopf» zu entkrampfen, hatte dafür den Applaus der SVP geerntet – und ihre Stimmen in der Vereinigten Bundesversammlung, die ihn im September zum Bundesrat wählte.

Doch zur Überraschung der Rechtspartei wollte Cassis bei den Verhandlungen mit Brüssel vorwärtsmachen, geriet dabei aber bald ins Stocken. Und obwohl die Landes­regierung die flankierenden Massnahmen wieder und wieder zur roten Linie erklärte, musste Cassis' Chefunterhändler Balzaretti nach Bern rapportieren, dass eine Einigung ohne Kompromisse beim Lohnschutz unwahrscheinlich sei.

Cassis überschreitet die rote Linie

Schliesslich entschied sich der Aussenminister Mitte Juni, im Interview mit Radio SRF laut darüber nachzudenken, Teile der flankierenden Massnahmen – namentlich die Acht-Tage-Regel – zu lockern. Prompt hagelte es Kritik von links bis in die Mitte.

Als der Tessiner im Juni vor den Sommerfe­rien optimistisch eröffnete, mit den Sozialpartnern und Brüssel parallel verhandeln zu wollen, reagierten seine Bundesratskollegen deutlich erstaunt. Ohne Einigung im Innern seien Verhandlungen mit der EU nicht zu führen, sagte Cassis. Die Frage wurde aufgeworfen, ob das Wirtschaftsdepartement, in dessen Kompetenz die flankierenden Massnahmen ja fallen, eine mög­liche Lösung skizziert habe.

Schneider-Ammanns fatale Äusserung

Dem war zwar nicht so. Dennoch erteilte die Landesregierung Schneider-Ammann den Auftrag, zügig Kompromisse auszuloten. In wenigen Wochen sollte Tempo gewinnen, was seit Jahren im Leerlauf dreht. Denkbar ungeschickt nur, dass Schneider-Ammann die Acht-Tage-Regel in der «Aargauer Zeitung» zur Makulatur erklärte.

Die Gewerkschaften signalisierten denn auch unverzüglich, dass es für sie nichts mehr zu bereden gebe. Rechsteiner im SonntagsBlick: Dem Wirtschaftsminister werde man «Nachhilfeunterricht» erteilen! Die Konfronta­tion liess sich nicht mehr entschärfen. Am Mittwoch eskalierte sie endgültig.

Bundesrat Johann Schneider-Ammann reagiert verärgert über die Vorwürfe der Gewerkschaften und spricht von einem «Vertrauensbruch».
3:03
Gewerkschaften boykottieren Verhandlungen:Schneider-Ammann will sich das nicht bieten lassen

Grünen-Präsidentin Regula Rytz (56, BE) meint, diesen Bock hätte Schneider-Ammann nicht schiessen dürfen. Die Infragestellung des Lohnschutzes – und sei es nur als Diskussionsgrundlage – markiere die «maximale Provokation». Es sei gut möglich, dass der FDP-Magistrat falsch beraten werde, sagte Rytz. Sie zielt dabei auf Stefan Brupbacher (50), den Generalsekretär des Departements.

SVP als lachende Dritte?

Der einstige Rechtsberater von Ex-Novartis-Chef Daniel Vasella (64) war in diesem Jahr bereits mit den Bauern anein­andergeraten. Nun heisst es, er habe auch die Sprachregelung zu verantworten, die Rechsteiner auf die Palme brachte.

Auch bürgerliche Stimmen mahnen bei den flankierenden Massnahmen zur Vorsicht, namentlich im Hinblick auf die anstehende innenpolitische Ausmarchung um die Freizügigkeit: «Kaum jemand denkt daran, dass wir noch eine Mehrheit brauchen, um die Begrenzungsinitiative der SVP zu bekämpfen», sagt die St. Galler Ständerätin Karin Keller-Sutter (54). «Materielle Anpassungen beim Lohnschutz sind vor diesem Hintergrund klar abzulehnen.» Als Präsidentin der Schweizer EU-Delegation hatte sie diese Position noch im Juli in Wien öffentlich verfochten.

Hoffen auf Berset

Tatsächlich verengt sich der Fokus der Europadebatte aktuell auf das Duell SP–Freisinn und auf die Frage, wie die flankierenden Massnahmen ausgestaltet werden sollen. Spätestens im Ringen mit der SVP, die der Personenfreizügigkeit – und damit den bilateralen Verträgen – per Volksentscheid den Garaus machen will, müssen sich die Streithähne und ihre politischen Lager wieder zusammenraufen. Manche hoffen gar, Bundespräsident Alain Berset (46, SP) werde – irgendwie – diese Versöhnung herbeiführen. Für einmal läuft die Europadebatte an der Rechtspartei vorbei. Zumindest vorübergehend.

Dreschen Freisinn und Sozialdemokratie aber munter weiter aufeinander ein, dürften sich Blocher und Co. schon bald die Hände reiben.

Chronologie des Scheiterns

20. September 2017
Ignazio Cassis wird in den Bundesrat gewählt – er verspricht, den «Reset-Knopf» zu drücken.

20. Dezember 2017
Druckversuch der EU: Schweizer Börsenäquivalenz wird nur noch befristet anerkannt.

31. Januar 2018
«Reset-Knopf» zum Ersten: Roberto Balzaretti wird neuer EU-Chefunterhändler.

3. März 2018
«Reset-Knopf» zum Zweiten: Der Bundesrat richtet seine Verhandlungsstrategie neu aus, hält aber an den flankierenden Massnahmen fest.

14. Juni 2018
Cassis stellt im SRF die flankierenden Massnahmen erstmals in Frage.

4. Juli 2018
Wirtschaftsminister Schneider-Ammann übernimmt, sucht das Gespräch mit den Sozialpartnern.

8. August 2018
Die Gewerkschaften sehen den Lohnschutz gefährdet und brechen die Verhandlungen ab.

20. September 2017
Ignazio Cassis wird in den Bundesrat gewählt – er verspricht, den «Reset-Knopf» zu drücken.

20. Dezember 2017
Druckversuch der EU: Schweizer Börsenäquivalenz wird nur noch befristet anerkannt.

31. Januar 2018
«Reset-Knopf» zum Ersten: Roberto Balzaretti wird neuer EU-Chefunterhändler.

3. März 2018
«Reset-Knopf» zum Zweiten: Der Bundesrat richtet seine Verhandlungsstrategie neu aus, hält aber an den flankierenden Massnahmen fest.

14. Juni 2018
Cassis stellt im SRF die flankierenden Massnahmen erstmals in Frage.

4. Juli 2018
Wirtschaftsminister Schneider-Ammann übernimmt, sucht das Gespräch mit den Sozialpartnern.

8. August 2018
Die Gewerkschaften sehen den Lohnschutz gefährdet und brechen die Verhandlungen ab.

Was ist das Rahmenabkommen?

Das Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU ist derzeit in aller Munde und wird auf allen Ebenen heiss diskutiert. Doch was genau fällt eigentlich alles unter das Abkommen und was sind die Streitpunkte? Ausführliche Antworten gibt es hier.

Zwei Drittel der Unternehmen stellen sich in einer Umfrage hinter den Bundesrat, der mit der EU über ein Rahmenabkommen verhandeln will. (Symbolbild)
Zwei Drittel der Unternehmen stellen sich in einer Umfrage hinter den Bundesrat, der mit der EU über ein Rahmenabkommen verhandeln will. (Symbolbild)
KEYSTONE/GAETAN BALLY

Das Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU ist derzeit in aller Munde und wird auf allen Ebenen heiss diskutiert. Doch was genau fällt eigentlich alles unter das Abkommen und was sind die Streitpunkte? Ausführliche Antworten gibt es hier.

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