Stimmung bei den Genossen
Klingbeil redet, wie er heisst: «Die CDU ist eine Partei in purer Panik! Jetzt fangen sie an, mit Schmutz zu werfen!»
Scharf klingt der SPD-Generalsekretär an diesem Samstagnachmittag in Worms. Eine Reaktion auf die CDU-Konkurrenz, die im etwa zweieinhalb Autostunden entfernten fränkischen Nürnberg gerade zum Angriff übergegangen ist. Da sind es noch zwei Wochen bis zur Wahl, da ist Zunder drin.
Willkommen im deutschen Wahlherbst! Nach 16 Jahren Kanzlerin Angela Merkel suchen unsere Nachbarn jemand Neues. Olaf Scholz (63) von den Sozialdemokraten, Armin Laschet (60) von den Christdemokraten, Annalena Baerbock (40) von den Grünen; jemand von ihnen muss es werden. SonntagsBlick reiste ihnen nach von Schwaben bis in den hohen Norden und sprach mit ihnen.
Karl-Rudolf Korte leckt genüsslich an seiner Glace und winkt ab. Der Professor ist ein recht bekannter Politikwissenschaftler. Heute sei er nur als einfacher Bürger da, sagt er. Den Kandidaten Scholz will sich Korte in Worms im Bundesland Rheinland-Pfalz unverbindlich anschauen. Eine Prognose wagt er trotzdem: «Es gibt einen Wahlabend ohne Entscheidung, aber mit zwei Bundeskanzlern. Dann folgen Sondierungsgespräche. Über Wochen.»
Also doch wieder Postenschacher und Hinterzimmer-Deals? Nicht gerade das, was sich die Deutschen unter Aufbruch erhoffen. Viele nörgeln schon jetzt und haben das Gefühl, sie seien um eine richtige Wahl gebracht worden. Noch nie in der Historie der Bundesrepublik haben sie mit ihren Kandidaten so gefremdelt wie diesmal. Lieber hätten sie andere Köpfe gehabt. Zum Beispiel statt CDU-Mann Laschet lieber den derzeitigen bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (54). 40 Prozent der Wähler sind demnach angeblich noch unentschlossen. Das TV-Kandidaten-Triell fanden viele Deutsche schlicht ungeniessbar.
Aber alle drei Kandidaten sind wenigstens neu. Olaf Scholz hat als erster begriffen, dass der Mensch das Bewährte liebt. Er kopiert Merkel so geschickt bis in die Gestik mit der Raute hinein, dass Spötter ihn bereits «den Merkel» nennen. Er sei ein Erbschleicher, schimpft die Polit-Konkurrenz. Der Erfolg gibt ihm recht. Die SPD liegt in Umfragen gerade bei 26 Prozent. Davor steckte sie bei mickrigen zwölf Prozent, in ihrer grössten Krise der Nachkriegsgeschichte.
Die Stimmung passt also in Worms, wo die Band gerade «Jambo, Jambo» anstimmt. Wahlkampf ist auch Showtime, für jede Generation ist etwas dabei: Rote Ballons für die Kleinen, eine Influencerin für die Junggebliebenen, der Schlagersänger Roland Kaiser für die älteren Semester.
Dann spricht Scholz. Verglichen mit seinem aufgebrachten Vorredner, Generalsekretär Lars Klingbeil, fliesst seine Rede ruhig und gelassen. Seine Stimme kennt keine Höhen und Tiefen.
Scholz gilt als Technokrat, als zurückhaltend bis zur Unauffälligkeit. Finanzaffären, in denen es um unglaubliche Summen ging, die im Volk aber kaum jemand wirklich begriff, schienen an ihm abzuperlen. Scholz ist zurzeit Finanzminister, gerade kam es in seinem Ministerium zu einer Razzia. Ein Skandal oder ein Wahlkampfmanöver? Darüber rätselt Deutschland bis heute.
Scholz redet auf der riesigen Bühne viel von Gerechtigkeit. Keine lauten Töne, kaum Giftpfeile. Motto: Unter dem Radar bleiben. Die anderen straucheln lassen.
Was er braucht, sind gute Bilder. Scholz geht auf Tuchfühlung mit den Wählern, die warten auf der anderen Seite der Absperrung. Die Fans stehen an, der Büroleiter nimmt deren Handy entgegen, fertig ist das Foto. Wahlkampf ist eine Maschinerie. In diesem Fall eine gut geschmierte.
Was würde Kanzler Scholz für die Schweiz bedeuten? «Grosse Unternehmen haben sich einen Weg gesucht, wie sie nicht dort Steuern zahlen, wo sie viel verdienen, sondern dort, wo wenig Steuern verlangt werden», sagt Scholz zu SonntagsBlick. «Wenn sich das jetzt ändert, dann ist das für die Finanzierung all unserer Staaten von grösster Bedeutung.»
Ein typisch verschlungener Scholz-Satz. Er hat sich entschieden, nicht über die Kavallerie zu sprechen. Unter dem Radar bleiben. Die anderen straucheln lassen.
Pfiffe und Witze bei den Grünen
Nein, diese Frau hält nichts vom olympischen Gedanken. Dabei sein ist nicht alles. So, wie sie die Bühne erobert, ins Volk schaut und dann loslegt, merken auch die hinteren Reihen auf dem Münsterplatz im schwäbischen Ulm, 250 Kilometer von Worms: Diese Frau will gewinnen. Vor dem Hintergrund des höchsten Kirchturms der Welt, knapp 162 Meter hoch, kämpft Annalena Baerbock zwölf Tage vor der Wahl ums mächtigste Amt in Deutschland. .
Nur ist der Traum vielleicht schon geplatzt. Unpräzise Angaben im Lebenslauf, und dann hat sie für ihr Buch wohl auch noch abgeschrieben. Vor einem halben Jahr waren die Grünen bei 30 Prozent. Seither haben sich die Werte halbiert.
Zuschauerin Nathalie Franke (21) ist 30 Kilometer weit angereist. Vom Frauenbonus hält sich nichts: «Sie muss mich schon auch überzeugen.» Baerbock spricht auf der Bühne gerade an, dass an vielen Schulen in Deutschland weder Internet noch Warmwasser funktionieren: «Scholz und Laschet reden von ihrer Regierungserfahrung. Aber wo hat uns das hingeführt?», ruft sie.
Gegenüber SonntagsBlick verspricht sie, als Kanzlerin «einen Besuch in der Schweiz» machen zu wollen – «um die Mobilität, die es in der Schweiz gibt, auch nach Deutschland zu bringen». Baerbock schwärmt vom «sauberen und bezahlbaren ÖV» der Schweiz.
Vieles ist bei den Grünen ein bisschen anders. Die Hocker sind aus Karton, die Sicherheitsleute aus der Basis rekrutiert. Ältere Damen und Herren im Schlabberlook und mit «Ordner»-Armbinden. Bei den Grünen sind auch Fragen aus dem Publikum willkommen. Baerbock fällt noch was ein: «Rufen Sie auch Ihren Ex-Mann an. Jede Stimme zählt.» Der Witz sitzt, der Münsterplatz lacht.
Ein paar Stunden später. Wahlkampfauftritt der Grünen in der schwäbischen Landeshauptstadt Stuttgart. Auf der Bühne explodiert gerade Cem Özdemir. Der Kopf ist rot, die Halsschlagader dick wie ein Seil, der Zeigefinger sticht ins Publikum. Der Grünen-Politiker ist von hier, er weiss, was ihn erwartet. «Wenn wir eine Diktatur wären, dürftet ihr gar nicht demonstrieren. Denkt doch mal nach!», brüllt er in die Menge auf dem Stuttgarter Marienplatz. Mit «ihr» meint er die radikalen Impfgegner, die in Stuttgart besonders schrill auftreten. Ohrenbetäubendes Pfeifen. Stuttgart ist ein Kessel, die Gegner haben sich mit Glocken und Trillerpfeifen oberhalb der Bühne postiert. Die Bauern sind auch noch da – wegen der Milchpreise und dem Wolf.
«Hau ab! Hau ab!», schreien die Impfgegner. In Sachsen hat diese Woche ein Gericht entschieden, dass Plakate einer rechtsextremen Partei weiter hetzen dürfen, auf denen steht: «Hängt die Grünen». Das sei durch die Meinungsfreiheit gedeckt, so die Richter.
Hauptrednerin Annalena Baerbock betritt die Bühne, lautes Klatschen, gellende Pfiffe. Hunderte sind da, viele Junge, einige Schaulustige sind auf umliegende Verkehrsbrücken geklettert. Rauchschwaden wabern über den Platz. Baerbock stellt kurz ihr Lächeln ab: «Bitte nicht alles überschreien. Nicht, dass die Kinder einen Hörschaden kriegen.» Trotz der Störer schafft sie es, Ordnung in ihre Ansprache zu bringen. Zum Schluss noch mal der Witz mit dem Ex. Baerbock lächelt und wartet. Er funktioniert auch hier.
Galgenhumor bei der Union
Fast 700 Kilometer nördlich vom Stuttgarter Marienplatz. Die Burg Seevetal, ein Backsteinbau aus den 80ern liegt im Speckgürtel von Hamburg. Drinnen die Gemeindeverwaltung, auf der Rückseite ein Corona-Testcenter. Der Parkplatz vor der Burg ist abgesperrt. Nebenan schieben Rentner Einkaufswagen zu Edeka. Es sind Stammlande der CDU, in solchen Gemeinden werden Wahlen entschieden.
Es ist Mittag, Armin Laschets Bus ist da, nur er selber noch nicht. An diesem Tag absolviert er sechs Wahlkampftermine, überall in Norddeutschland. Eine Ochsentour.
Dabei sah es lange nach Wahlkampf im Schlafwagen aus. Laschet hatte Traumwerte. Bis er an der falschen Stelle lachte, als er sich die Hochwasserschäden ansah. Seither hetzt er hinterher. Nun eben Heli statt Schlafwagen. Nebenher ist er noch Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen.
Die Stehtische sind exakt entlang der Parkfelder aufgestellt. Viele Windjacken, Steppjacken, ein paar Anzugträger sind auch da. Dominierende Farbe ist Greige, die Kombi aus Grau und Beige. Der dominierende Typus: Rentner. Ein paar Gymnasiasten schlendern herbei, sie haben gerade Freistunde.
Sabine und Frank Stockhaus wären bereit. Eine Meinung hat sich das Ehepaar aus der Gegend längst gebildet: «Alle wollten Markus Söder, der hätte es geschafft.» Heute sind sie trotzdem gekommen. Denn es gilt für sie, «einen Linksrutsch zu verhindern». Laschet weiss, dass viele lieber Söder wollten. «Ist ja in Ordnung», wird er später dazu sagen, «aber jetzt geht es um mehr!»
Was die Konkurrenz angeht, so ist Olaf Scholz ausgerechnet in Hamburg nicht sonderlich beliebt, wo er Bürgermeister war. Als die Stadt am G-20-Gipfel vor vier Jahren in Krawallen versank, sei Scholz nur kurz aus der Elbphilharmonie getreten, so die Legende, und habe ein bisschen herumgedruckst. Das G-20-Fiasko hat man ihm nicht verziehen. Beim CDU-Wahlkampf in Seevetal erwähnt man das oft und gerne.
Laschet hat 20 Minuten Verspätung. Auf der Bühne improvisieren die Lokalpolitiker. «Wir könnten auch singen», schlägt einer vor. «Wahlkampf macht Spass. Man muss nur gewinnen», witzelt ein anderer. Wenns nur kein Galgenhumor ist.
Dann endlich Rotoren-Geräusche, die Politiker eilen dem Gast entgegen. Schon erscheint Laschet auf der Rückseite der Burg, vorbei am Testcenter. Aus Lautsprechern donnert «Eye of the Tiger», die Hymne aus «Rocky III» mit Sylvester Stallone, halb nackt, glänzend, muskulös. Kann ein Lied weniger passen? Laschet lächelt. Vielleicht ist das Absicht, ein Spässchen zwischendurch, er gilt als rheinische Frohnatur. In der ersten Reihe rufen ein paar junge Leute auf Kommando «Armin! Armin!» Es klingt etwas verhalten.
Auf der Bühne warnt Laschet vor einer rot-rot-grünen Mehrheit: «Dann werden viele Menschen dieses Land verlassen.» Es ist die alte Rote-Socken-Kampagne, «nicht besonders originell», gibt er zu. Aber eben zutreffend, findet Laschet, dessen Leute diese Woche in Nordrhein-Westfalen einen Terroranschlag vereitelt haben. Laschets Motto: Mehr Sicherheit, nur keine Steuererhöhungen und weniger Bürokratie. «Klimaschutz ja, aber keinen Systemwechsel», ruft Laschet. Das Publikum applaudiert. Schnell das Deutschlandlied gesungen und weiter auf die Tube gedrückt. Es warten drei weitere Termine.
Zwischen Bühne und Helikopter versichert Laschet SonntagsBlick: «Deutschland bleibt ein guter Nachbar. Wir werden mit der Schweiz gut kooperieren und sie eng an Europa binden.»
Was das heisst? In einer Woche sind wir schlauer. Vor allem die Deutschen.