Das Schweizer Milizsystem ist in der Krise. Jede zweite Gemeinde hat Mühe, Kandidaten für den Gemeinderat zu finden, wie BLICK am Montag publik machte. Neue Zahlen zeigen nun: Die Lokalpolitik hat ein Problem mit der Überalterung. Vielen Gemeindebehörden fehlt der Nachwuchs.
In Zahlen ausgedrückt: 2017 war nur jeder 18. Gemeinderat ein junger Erwachsener – also unter 35 Jahre alt. Dies zeigt eine Befragung der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Chur unter 1000 jungen Erwachsenen und 600 Gemeinden. 70 Prozent der Gemeinden gaben an, dass sie Mühe bei der Rekrutierung von unter 35-Jährigen haben. Die Jungen würden sich schlicht nicht mehr zur Verfügung stellen. Die Daten stammen aus dem Forschungsprojekt Promo 35 zum Thema Nachwuchsförderungen und liegen BLICK exklusiv vor.
Die Mehrheit der Bevölkerung ist politisch ungebildet
Die Studie benennt auch die Gründe für die Politikverdrossenheit: Die Jungen trauen sich das Amt nicht zu. 44 Prozent gaben an, gar keine Ahnung von Politik zu haben. Und weitere 22 Prozent sagten, sie hätten zu wenig Wissen über Politik, damit sie ein Amt ausüben könnten. Basisfragen wie beispielsweise nach den alltäglichen Aufgaben eines Gemeinderates konnten zwei von drei Befragten nicht beantworten. «Das ist fatal. Unsere Studie zeigt, dass politische Bildung in der Schweiz zu kurz kommt», sagt Studienleiter Curdin Derungs.
Die Botschaft ist in der Politik angekommen. Verschiedene Exponenten haben Initiativen im Köcher, um das Problem anzugehen. Pierre Maudet (40), Wirtschaftsminister des Kantons Genf, letztjähriger Bundesratskandidat und BLICK-Kolumnist, nimmt nicht nur die Schulen, sondern auch die lokalen Parteien in die Pflicht. Sie sollten aktiver werden und junge Erwachsene für ein Gemeindeamt motivieren.
Für jene, die sich interessieren, fordert er bessere Unterstützung. Konkret: Maudet schlägt einen Uni-Lehrgang für angehende Politiker vor. Die Matura ist kein Zulassungskriterium, Engagement reicht – so wäre fehlendes Wissen keine Ausrede mehr. Die Studenten könnten in speziellen Kursen an der Uni das Handwerk eines Gemeinderates erlernen. «Das Milizsystem ist unter Druck. Wir brauchen in Zukunft Leute, die sich für die Politik einsetzen.»
Noch mehr an der Basis will SP-Nationalrätin Nadine Masshardt (33) ansetzen. Internationale Studien hätten schon vor Jahren gezeigt, dass die Mehrheit der jungen Schweizer politisch ungebildet sei. «Getan hat sich aber nichts. Und jetzt haben wir die Quittung», kritisiert sie.
Berufsschulen sollen Geld vom Staat erhalten
Nun fordert sie eine Bildungsoffensive. Das Ziel ihrer parlamentarischen Initiative: Der Bund soll die politische Bildung in den Berufsschulen finanziell unterstützen. «Wenn die Lehrlinge politische Zusammenhänge verstehen, werden sie vermehrt abstimmen und übernehmen auch eher ein Amt in der Gemeinde», ist Masshardt überzeugt.
Auch für die Volksschule schlägt die Bernerin Reformen vor. Denn: Im Gegensatz zum Tessin und der Romandie gibt es in der Deutschschweiz bis heute keinen Kanton, der Staatskunde als eigenes Fach ausweist. Masshardt fordert: «Staatskunde soll ein eigenständiges Fach in der Mittel- und Oberstufe werden.»
Ihr Anliegen dürfte keinen einfachen Stand haben. Mit dem Lehrplan 21 wurde Staatskunde gerade erst in das Fach Geschichte und Geografie integriert. Drei Stunden Unterricht sind für diese riesigen Fachgebiete pro Woche vorgesehen. «Zu wenig», findet Monika Waldis, Leiterin des Bereichs Politische Bildung an der PH der Fachhochschule Nordwestschweiz. Nun müssten andere in die Bresche springen: «Deutschlehrer können ihren Beitrag leisten, indem sie politisches Argumentieren lehren.»