Null Bock auf ein Amt – Studie zeigt
Der Schweiz gehen die Gemeinderäte aus

Immer weniger Bürger sind bereit, ein politisches Amt im Dorf wahrzunehmen. Das zeigt das noch nicht veröffentlichte nationale Gemeindemonitoring 2017, das BLICK vorliegt.
Publiziert: 22.04.2018 um 23:30 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 14:25 Uhr
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Die Bündner Gemeinde Tujetsch: Ein Einheimischer wollte sich nicht zur Verfügung stellen, jetzt ist ein Ferienhausbesitzer Gemeindepräsident.
Nicola Imfeld

Tujetsch GR im Jahr 2015: Es ist eingetroffen, was im Dorf lange Zeit befürchtet wurde. Die Bündner Gemeinde ist führungslos. Keiner der über 1900 Einwohner will Gemeindepräsident werden. Die Tage verstreichen, die Unsicherheit wächst. In ihrer Verzweiflung schreibt die Verwaltung sogar Ferienhausbesitzer an. Einer meldet sich: Beat Röschlin. Sein politischer Leistungsausweis: leer. Er spricht nicht einmal die Amtssprache (Rätoromanisch). Trotzdem wird er Gemeindepräsident – und ist es bis heute.

Foto: Blick-Grafik

Tujetsch steht sinnbildlich für das bröckelnde Milizsystem der Schweiz. BLICK liegt das noch nicht veröffentlichte nationale Gemeindemonitoring 2017 vor. Die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) befragte alle 2222 Gemeindeschreiber und 12'922 Exekutivmitglieder der Schweiz.

«Das macht die Demokratie zur Farce»

Das Resultat ist ernüchternd: Jede zweite Gemeinde hat Mühe, Personal für den Gemeinderat zu finden. In jedem zwanzigsten Dorf wird eine Person in den Gemeinderat gewählt, der gar nie offiziell für das Amt kandidiert hat. Und jede fünfte Wahl eines Gemeinderats erfolgt heute still – also ohne Gegenkandidatur.

Foto: BLICK-Grafik

«Das macht die Demokratie zur Farce», sagt Politikwissenschaftler Oliver Dlabac. Dabei sei das Milizsystem ein wertvolles Gut für unsere direkte Demokratie, das es zu schützen gelte. «Es hält den Staat schlank und stärkt die Glaubwürdigkeit in die Politik.» 

Früher seien die Plätze in der Exekutive noch hart umkämpft gewesen, sagt der Politikwissenschaftler. «In den vergangenen 30 Jahren ist den Bürgern die Lust auf ein Engagement im Dorf vergangen.» In der letzten nationalen Befragung vor neun Jahren wiesen die Studienautoren ausdrücklich auf die Problematik hin. Getan hat sich nichts, wie der Vergleich mit 2009 nun zeigt. Doch warum will sich kaum noch ein Bürger im Dorf engagieren?

Unternehmen sind weniger kulant für Milizämter

Studienautor ZHAW-Direktor Reto Steiner.
Foto: Peter Maurer

Vom Personalmangel auf den schwindenden Gemeinsinn zu schliessen, greift zu kurz. Einer der Hauptgründe laut Studienautor und ZHAW-Direktor Reto Steiner: Die Ansprüche im eigenen Job sind gestiegen. «Der Bürger schätzt die verbleibende Freizeit mehr als früher. Er will den Feierabend nicht im Sitzungszimmer verbringen.»

Gleichzeitig zeigen sich die Unternehmen weniger kulant. Zwar würden 78 Prozent der Firmen die gesellschaftliche Bedeutung des Milizsystems anerkennen, wie eine Umfrage der ZHAW 2016 zeigte. «Aber in der Realität sieht es der Arbeitgeber nicht gerne, wenn ein Mitarbeiter am Nachmittag das Büro für eine Sitzung verlassen muss», sagt Steiner.

Foto: BLICK-Grafik

Hinzu kommt: Das Amt hat an Prestige eingebüsst. Früher waren Gemeinderäte geachtete Persönlichkeiten im Dorf. Mit dem Internet und den sozialen Netzwerken werden sie nun härter angegangen als je zuvor, sagt Steiner. «Wer will sich schon freiwillig den Wutbürgern auf Facebook oder Twitter aussetzen?»

Jeder vierte Gemeinderat arbeitet 44 Stunden pro Monat

Die fehlende Wertschätzung gegenüber den Exekutivmitgliedern ist eine paradoxe Entwicklung. Denn: «Die Arbeit der Gemeinderäte ist komplexer und somit aufwendiger geworden», sagt Renate Gautschy, Präsidentin der Aargauer Ammännervereinigung. Beweisen lässt sich das nicht – die Zahlen wurden in früheren Befragungen nicht erhoben. Sicher ist: Heute wenden zwei von drei Gemeinderäten mehr als sechs Stunden pro Woche für ihr Amt auf. Jeder vierte kommt gar auf über elf Stunden; sie arbeiten im Monat demnach eine ganze Woche mehr als der Durchschnittsbürger.

Renate Gautschy, Präsidentin der Aargauer Ammännervereinigung
Foto: zVg

Trotz des immensen Arbeitsaufwands: Die Entschädigung fällt mickrig aus. Als ehrenamtliches Exekutivmitglied hat man häufig nur Anspruch auf Spesen, Sitzungsgelder und eine kleine Pauschalentschädigung. Als Gemeinderat kommt man so im Schnitt auf etwa 30 Franken pro Stunde. Aufs Jahr hochgerechnet mit einem wöchentlichen Arbeitsaufwand von elf Stunden ergibt das 15'840 Franken. Oder anders ausgedrückt: knapp 16'000 Franken für zwölf Wochen zusätzliche Arbeit.

«Es stellt sich wirklich die Frage, wie in Zukunft diese Aufwendungen entschädigt werden können und zugleich das Milizsystem gestärkt werden kann», sagt Gautschy. Auch Politikwissenschaftler Oliver Dlabac findet: «Das Milizsystem muss dringend modernisiert werden!»

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