BLICK: Unser geplantes Interview im Sommer mussten Sie wenige Stunden vor dem Termin absagen. Sie hatten einen medizinischen Notfall. Wie geht es Ihnen heute?
Adolf Muschg: Gut. Der Krebs wurde entfernt. Ob er wirklich weg ist, weiss man aber nie. So begegnet einem die Endlichkeit.
Sie sind berühmt für Ihre Hypochondrie, hätten schon vor der Pubertät nichts so gefürchtet wie eine Krebsdiagnose. Was macht die Gewissheit, Krebs zu haben, mit Ihnen?
Wenn man «Wolf» ruft, dann kommt er. Und wenn der Wolf vor der Tür steht, braucht man nicht mehr zu rufen (lacht). Ich habe mein Verhältnis zur Zeit ein wenig geändert. Jüngere Leute delegieren einen grossen Teil ihrer Lebenszeit ans Handy – diesen Diebstahl an der Gegenwart leiste ich mir nicht mehr. Ein Vorteil des Älterwerdens: Ich brauche nicht mehr so auf Likes und Dislikes zu achten. Wenn ich mit mir selbst zurechtkomme, ist mir das Like genug.
Als Kind haben Sie den lust-, sinnes- und körperfeindlichen Protestantismus, wie Sie ihn nannten, verinnerlicht. Jetzt sind Sie nach Jahrzehnten der Konfessionslosigkeit zurück in den Schoss der Kirche ...
... das ist kein weicher Schoss, glauben Sie mir. Ich habe einen grossen Teil meines Lebens mit Rebellion gegen meine reformiert-kleinbürgerliche Erziehung verbracht und sie als Prügel auch gegen mich selbst verwendet. Aber ich finde immer mehr, dass sein Holz auch als Baumaterial gut ist oder zum Brückenschlagen. Und was noch schöner ist: zum Spielen.
Braucht der Mensch die Religion, um zu sich zu finden?
Religion ist ein fundamentales Bedürfnis des Menschen – genauso wie gesellschaftliche Ordnung und persönliche Freiheit. Aber diese gleichberechtigten «Potenzen», wie sie der grosse Historiker Jacob Burckhardt nennt, stehen in Konflikt zueinander – auch in jedem einzelnen Menschen. Die Kunst ist dann, zwischen ihnen ein Gleichgewicht herzustellen – und das fängt mit der Anerkennung des Konflikts an. Religion setzt ganz andere Werte als der Staat oder die Kultur. Die westliche Aufklärung verlangte von dem Menschen mehr, als er leisten kann: Wir werden beispielsweise nicht als Weltbürger geboren, und Menschenrechte sind uns alles andere als naturgegeben. Sonst hätte Europa als Friedensprojekt gelingen müssen, und ein Satz wie «America first» wäre nicht wählbar.
Ein Thema, das Europa umtreibt, ist die Rolle des Islams in unserer Gesellschaft. Jetzt will die CVP Kopftücher an Schulen verbieten.
Das ist nackter Stimmenfang ohne politische Substanz. Man hofiert dem Vorurteil, sucht das billige «Ja, klar».
Aber verstehen Sie nicht, dass die Menschen Angst vor dem Islam haben?
Verstehen kann man auch das Einfältigste. Es geht ja nicht um das Kopftuch, sondern um die Fantasie der eigenen Identität. Das Klischee ist ein Nothelfer, wenn es einem an Selbstsicherheit fehlt. Dann braucht man Feindbilder, die einen vom zivilen Anstand dispensieren. Das haben die Nazis mit ihrem Antisemitismus bis zum Holocaust vorgemacht. Dahinter stand ein tief verunsichertes deutsches Volk, das sich in den Wahn seiner grandiosen Identität flüchtete und im Rausch eigener Grösse jedes Mass verlor. Aber man muss auch wissen, dass Abgrenzung «natürlich» ist. Dahinter steht immer noch das Gesetz der Affenhorde, die ausschliesst und austreibt, was keinen Nestgeruch hat. Dagegen ist die Feindesliebe der Bergpredigt absolut «unnatürlich». Aber den Konflikt zwischen Reflexen und absoluten Forderungen zu sehen, zu anerkennen und auszuhalten macht uns erst zu Geschöpfen, die den Namen «Homo sapiens» verdienen. Wer für seine sogenannte Identität einen Feind braucht, kann mir als Person leid tun. Eine Gesellschaftt, die ihn braucht, macht mir Angst.
Angst macht auch das rechtsradikale Gedankengut, das europaweit im Aufwind ist. 2017 wird mit 1930 verglichen. Stimmt der Vergleich?
«Gedankengut» ist ein Unwort für mich. Keine Gedanken, kein Gut. Nicht einmal «Populismus» lässt sich über einen Leisten schlagen. Jeder Text verlangt einen Kontext. Blocher zum Beispiel ist kein Le Pen und kein Strache. Er hat aus einer behäbigen Mittelstandspartei eine professionell grenzüberschreitende gemacht. Dafür sind die anderen, die er vor sich hertreiben kann, ebenso verantwortlich wie er.
Jetzt unterstützt die SVP die No-Billag-Initiative.
Das erstaunt mich – und auch wieder nicht. In meiner Kindheit war Radio Beromünster eine heilige Stimme der «geistigen Landesverteidigung». Aber wenn die öffentlich-rechtlichen Medien heute das Geschäft stören – weg damit! Das ist nicht im Geringsten «schweizerisch» oder «autonom», es ist Globalisierung im schlechtesten Sinn. Und viele Zeitungen machen das Spiel mit – offenbar haben sie keine Kultur mehr zu verlieren, wohl aber Werbeeinnahmen. Die SRG, eine Trägerin öffentlichen Interesses, soll der Plünderung ausgeliefert werden. Das ist für Anleger «interessant» – für mich so charakterlos wie Geschäfte mit Nordkorea. Und genau jener «Ausverkauf der Heimat», gegen den die SVP angeblich antritt. Kommt die Initiative durch, werden wir auch die «fremden Richter» kriegen: nämlich das schnelle Geld, das keine Grenzen kennt, diejenigen der Schweiz so wenig wie die von Stil und Geschmack.
2017 war das Jahr der Me-Too-Debatte. Sexismus wird offen angeprangert, und durch den Fall Buttet kam das Thema auch im Bundeshaus an. Sie haben dazu bisher geschwiegen.
Ich habe gehofft, ich dürfe es auch weiterhin. Wer den Spielraum zwischen den Geschlechtern zu reglementieren anfängt, wird damit an kein Ende kommen – auch nicht der Peinlichkeit. Nicht nur in der Kunst ist gut das Gegenteil von gut gemeint.
Sie finden die Debatte also peinlich?
Ich rede nicht von Zwangsarbeit, die ist verwerflich in jeder Form – auch der sexuellen. Aber ich finde auch die Me-Too-Kampagne billig: die Selbst-Auszeichnung als Opfer. Sie erscheint mir als Alibi-Debatte, die über Missstände ganz anderer Grössenordnung zu schweigen erlaubt, zum Beispiel die Schere zwischen reich und arm, die sich immer weiter öffnet. Weltweit, aber auch bei uns. Natürlich bin ich für die Gleichstellung der Geschlechter, aber auch sie hat viele Gesichter. Wissen Sie, wie meine Mutter ihre Ablehnung des Frauenstimmrechts begründet hat? «Müssen wir den Männern das auch noch abnehmen?»
Sie hat die Rollenteilung von früher als Entlastung für die Frau wahrgenommen?
Genau. Heute ist das tabu. Aber diese Rollenteilung bleibt ein bewegliches Kulturgut. Das Verhältnis von Frau und Mann ist eine zu ernste Sache, als dass man sie Dogmatikern überlassen dürfte. Gerade mit dem Spielerischen daran scheint es der Natur ja sehr ernst zu sein. Über Foul-Play sollte kein Richter urteilen, sondern Stil und Geschmack. Erziehung, wenn Sie wollen. Fehlt sie, so hilft auch der Richter nicht mehr.
Durch die moderne Rollenteilung sind Männer in ihrem Mannesbild verunsichert, viele fühlen sich auch diskriminiert und finden ihre Rolle in der Gesellschaft nicht.
Und am Ende werden sie noch als Unholde behandelt. Diese Lose-lose-Situation ist auch Foul-Play, und gerade Frauen sollten es sich nicht gefallen lassen. Identitäre Positionen sind im Verhältnis der Geschlechter so einfältig wie in der Politik.
Wenn Sie zurückschauen in Ihrem Leben, waren Sie ein Sexist?
Das ist gar keine Frage. Natürlich war ich ein Sexist. Die Erwartung an einen jungen Mann zu meiner Zeit war mit Leitsätzen wie «sich beherrschen» beladen, «sich besitzen», hätte meine Mutter gesagt.
Konkret: In welchen Situationen waren Sie Sexist?
Das müssten Sie meine weiblichen Bekannten fragen. Nur der «Sexist» war damals noch nicht erfunden. Seit es ihn gibt, versuche ich, seine Tyrannei ebenso loszuwerden wie manche andere. Um mich an das Wort des alten Goethe zu halten: «Was ist das Allgemeine? Der einzelne Fall.» Dazu gehört etwa, dass ich im Defizit des andern nicht zuerst seinen bösen Willen sehe, sondern sein Pech – sogar, wenn es eine Frau ist.
Der Sexismus war also gut gemeint?
Kein «ismus» ist je gut gewesen, jeder bleibt mehrdeutig und kann in sein Gegenteil umschlagen. Von Thomas Mann gibt es – nach dem Krieg – einen klugen Satz über die Sünden der Deutschen. Hitler habe nicht das Böse in ihnen ans Licht gebracht, sondern er habe ihr Bestes in ihr Schlimmstes verkehrt. Ein Wort wie «Sexismus» ist Teil des Problems, das er beim Namen zu nennen glaubt. (Denkt lange nach.) Schauen Sie: Als Schriftsteller muss ich den Charakter meiner Figuren kennenlernen, ich arbeite mich an ihren Widersprüchen ab. Und wenn es gut geht, ist diese Arbeit auch eine Art Weiterkommen für mich selbst.
Ihre Mutter war zu Ihrer Teenagerzeit depressiv und ein Leben lang streng religiös. Wie hat sie Ihr Verhältnis zu Frauen geprägt?
Stark genug. Ich hatte gelernt, dass man der wichtigsten Frau in meinem Leben, meiner Mutter, nicht die Wahrheit sagen darf, da man sie schonen muss. Sie glaubte, ihre eigene Mutter um die ewige Seligkeit gebracht zu haben, als sie ihre Kremation zuliess. Heute glaube ich zu wissen, dass sie an dieser absurden Geschichte festhielt, weil sie sich damit eine andere, traumatische verbergen konnte. Sie hatte mit sexuellem Missbrauch in ihrer Familie zu tun.
IMAGE-ERROR (image_3_5a3d20a6418d1)
Über den Missbrauch wurde wohl nie gesprochen.
Stellen Sie sich vor, ich hätte so etwas als 16-Jähriger schon gewusst und ihr ins Gesicht gesagt. Ich habe getan, was ich tun konnte: Ihr nach der Auszeit im Sanatorium – und meinem Exil im Internat – die Chance zu geben, an meiner Erziehung nichts zu versäumen und diesmal alles richtig zu machen. Es war eine harte Schule für uns beide.
Können Männer und Frauen nur Freunde sein?
Wenn jede Seite gelernt hat, mit sich selbst freundlich, freundschaftlich umzugehen, ja. Aber Freundschaft ist eben nicht das ganze Leben. Die Passion gehört dazu, in der man sich und andere überfordert.
Haben Sie sich eigentlich mit der Schuld, Ihre Frau und Familie für eine neue Liebe verlassen zu haben, versöhnt?
Wäre ich wie meine Mutter, hätte ich es mir nie vergeben. Nun lebe ich es aber – und meine früheren Ehen sind eine grosse Hilfe dabei.
Morgen betet die Christenwelt eine Jungfrau an, die ein Kind geboren hat. Woher kommt diese Obsession mit der Jungfräulichkeit?
Wir reden von keinem biologischen Sachverhalt, sondern von einem symbolischen, und gerade darum können ihn die anderen monotheistischen Religionen – Judentum und Islam – nicht gelten lassen. Ich bin für den zarten Nachklang griechischer Mythologie ganz dankbar. Von einem ernst gemeinten Glauben wird er heute niemanden mehr abhalten.
Was halten Sie eigentlich davon, dass die Katholiken Adam aus der Bibel gestrichen haben? In der Schöpfungsgeschichte heisst er neu gendergerecht «Mensch».
Das wäre ein Beispiel für die Einfalt des Korrekten. Aber die Genesis lässt «den Menschen» ohnehin zweimal entstehen, und von Haus aus ist er so wenig nur männlich wie der «Maȋtre de cabine» im Flugzeug. Oder wäre Ihnen «maȋtresse» lieber? (lacht)
Sie werden weiterhin von Adam lesen, die reformierte Kirche hat ihn beibehalten. An Weihnachten werden Sie den Gottesdienst besuchen. Aber wie beten Sie eigentlich, wenn gerade kein Feiertag ist?
Wenn schon, betet «es» in mir, auch ohne gefaltete Hände. Ich glaube, auf rituelle Gebetssitzungen verzichtet Gott noch lieber als ich.