Schock-Studie an Schulen
Lehrer verlangen mehr Schutz vor Gewalt

Beschimpfungen von Eltern, Drohungen von Schülern und Mobbing von Arbeitskollegen: Zwei von drei Schweizer Lehrpersonen haben in den vergangenen fünf Jahren Gewalt erlebt. Ihr Dachverband verlangt nun präventive Massnahmen und bessere Unterstützung.
Publiziert: 16.01.2023 um 16:51 Uhr
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Aktualisiert: 16.01.2023 um 17:25 Uhr
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Am Montag hat der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) die Resultate einer Studie zu Gewalt an Lehrpersonen vorgestellt.
Foto: Keystone

«Der Vater einer Schülerin versperrte mir den Ausgang aus dem Klassenzimmer, nachdem ich das Lernberichtsgespräch hatte abbrechen müssen, weil er mich als Diktator, Teufel und Satan beschimpfte.» Oder: «Ein Schüler hat keine Lust, den Auftrag zu erfüllen, ich weise ihn darauf hin, er sagt: ‹Fick dich.›»

Solche Schmähungen oder Drohungen von Eltern und Schülerinnen und Schülern, aber auch Mobbing von Arbeitskolleginnen und -kollegen gehören für Lehrpersonen zum Berufsalltag: Zwei von drei Schweizer Lehrpersonen haben in den vergangenen fünf Jahren Gewalt erlebt. (Blick berichtete).

Das ist das Resultat einer repräsentativen Umfrage unter Lehrpersonen aller Stufen, die in der Deutschschweiz zum ersten Mal erarbeitet wurde. Hochgerechnet auf 100’000 Lehrpersonen sind also 65’000 von Gewalt betroffen. Der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) hat am Montag eine entsprechende Studie dazu vorgestellt.

Gewalt geht am häufigsten von Eltern aus

Die Umfrage zeigt: Die Gewalt gegenüber Lehrpersonen geht am häufigsten von Eltern (in 36 Prozent der Fälle) sowie von Schülerinnen und Schülern (34 Prozent) aus. In 15 Prozent der Fälle treten als Aggressoren andere Lehrpersonen auf, in elf Prozent die Schulleitung.

Tendenziell erführen Lehrerinnen mehr Gewalt als ihre männlichen Arbeitskollegen, heisst es weiter. Und: Jüngere Lehrpersonen seien häufiger Gewalt ausgesetzt, stuften sie aber eher weniger schlimm ein als ältere Lehrerinnen oder Lehrer.

«Psychische Gewalt kommt am häufigsten vor»
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Leiterin zur LehrerInnenstudie:«Psychische Gewalt kommt am häufigsten vor»

«Die Resultate der Studie sind für den Berufsverband besorgniserregend», sagte Beat A. Schwendimann, Leiter Pädagogische Arbeitsstelle beim LCH. Aber: Der Verband wolle nicht dramatisieren, hielt Zentralpräsidentin Dagmar Rösler fest. «Es bestehen in der Schweiz keine amerikanischen Verhältnisse.» Soll heissen: Schwere Vorfälle von Gewalt mit sexuellen Übergriffen, Waffen oder Verletzungen seien Einzelfälle.

Die Gewalt zeige sich in subtileren Formen, führte Studienautorin Martina Bräger aus. Am häufigsten kommen an Schweizer Schulen Beleidigungen, Beschimpfungen, Bedrohungen und Einschüchterungen vor. Auch diese seien aber nicht ohne Folgen, Betroffene seien oft über einen längeren Zeitraum emotional belastet.

Überlastung und fehlende Ressourcen

Antworten zum soziodemografischen Profil der gewalttätigen Eltern oder Schülerinnen und Schüler liefert die Studie allerdings nicht. Die Resultate zeigten, erklärte Schwendimann, dass Gewalt von Personen aus allen Gesellschafts- und Bildungsschichten ausgehen könne. «Das primäre Ziel der Studie ist es gewesen, zum ersten Mal eine umfassende Statistik zum Thema zu erfassen.»

Gewalt gegen Lehrkräfte sei zwar mit keinem eigentlichen Tabu belegt, Betroffene könnten sich in der Regel jemanden anvertrauen, heisst es in der Studie weiter. Bloss: Oft bleibe es bei einer «moralischen Unterstützung».

«Allzu viele Betroffene sehen sich auf sich selbst gestellt, um mit Gewalt gegen ihre Person zurechtzukommen», hält die Studie fest. Es könne von einem Wegschauen und Abschieben der Verantwortung gesprochen werden. Dies könne neben Überforderung ein Zeichen von Überlastung und fehlenden Ressourcen sein.

LCH fordert Krisenkonzepte

Der LCH verlangt darum präventive Massnahmen und bessere Unterstützung betroffener Lehrpersonen. Der Verband fordert deshalb eine unabhängige Ombudsstelle sowie Interventions- und Krisenkonzepte an jeder Schule.

Lehrpersonen müssten zudem im Konfliktmanagement oder im Umgang mit Cybermobbing geschult werden. Die Schulleitungen, Anstellungsbehörden und Teams sollten die nun ans Tageslicht gekommenen Fakten anerkennen und dürften die Gewalt nicht bagatellisieren.

Für den LCH ist klar: Jeder Fall von Aggressivität ist einer zu viel. Die Schule müsse ein gewalt- und angstfreier Raum für alle dort teilhabenden Personen sein.

«Der Schulleitung kommt eine Schlüsselrolle zu»

Die Ergebnisse der Studie lassen auch die Politik nicht kalt. «Wichtig ist, dass es an Schulen genügend Pensen für Schulleitungen gibt. Eine gute Schulleitung kann ihre Lehrpersonen unterstützen, damit kann bereits vieles aufgefangen werden», sagt EVP-Nationalrätin Lilian Studer (45). Zudem brauche es auch vermehrt Assistenzpersonen in den Schulzimmern und eine Schulsozialarbeit, an die sich Schülerinnen und Schüler wenden könnten.

SP-Nationalrätin und LCH-Geschäftsleitungsmitglied Sandra Locher Benguerel (47) sagt: «Es braucht jetzt ganz niederschwellige Massnahmen an jeder Schule, damit Lehrpersonen bei Fällen von Gewalt entsprechend unkompliziert unterstützt werden können.» Auch sie sagt, der Schulleitung komme eine Schlüsselrolle zu: «Es ist ganz wichtig, dass Lehrpersonen nicht alleine gelassen werden.»


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