Seit Sarah Ketterer (15) vier Jahre alt ist, pflegt sie ihre kranke Mutter Silvia (53). Wegen rheumatoider Arthritis ist diese ein Pflegefall. Krankheitsschübe versteifen ihre Muskeln – trifft es den Kehlkopf oder die Halswirbelsäule, kann sie tagelang weder sprechen noch laufen. Dann übernimmt Tochter Sarah alles, was ihre Mutter nicht kann.
Mit sieben Jahren kochte Sarah warme Mahlzeiten für ihre Mutter. «Mit zehn schon richtige Menüs», sagt Silvia Ketterer stolz. Zudem macht Sarah die Wäsche, sortiert ihrer Mutter die Medikamente oder telefoniert mit den Ärzten, «wenn ich mal wieder nicht sprechen kann», wie ihre Mutter sagt.
«Ich bin auf meine Tochter angewiesen»
Als Blick die Familie in ihrer Eigentumswohnung in Embrach ZH besucht, geht es Mutter Silvia gut. «Dann kann ich vieles selber machen.» Aber kommen die Schübe, muss Sarah ran. Und die kommen so unberechenbar, dass ein Entlastungsdienst zu unflexibel wäre. Zudem müsste die Familie professionelle Hilfe selbst bezahlen – auch weil Vater Hansjörg Ketterer als selbständiger Maschineningenieur gut verdient.
Es entsteht kein klassisches Mutter-Tochter-Verhältnis, wenn die Tochter von klein auf der Mutter beim Anziehen hilft. «Wir sind mehr auf Augenhöhe», sagt Silvia Ketterer. Schon oft hat sie sich für ihr Muttersein geschämt: «Ich bin auf meine Tochter angewiesen, dabei müsste es ja umgekehrt sein.»
Deshalb sieht es Mutter Silvia gern, wenn ihre Tochter ihren Hobbys nachgeht oder sich mit Kolleginnen trifft. «Ich und mein Mann schauen, dass sie auch ihren Freiraum hat.»
Spitex käme für Sarah nicht infrage
Sarah hingegen kennt es nicht anders. Sie würde es auch nicht anders wollen: «Gegen die Spitex würde ich mich wehren!» Würde jemand anderes ihre Mutter pflegen, würde sie ein schlechtes Gewissen haben, erzählt sie. Silvia Ketterer wendet sich ihrer Tochter zu: «Wir hätten dir nie einen Vorwurf gemacht.» Doch für Sarah steht fest: «Du bist meine Mutter, ist doch klar, dass ich für dich schaue!»
Es ist dieses Pflichtbewusstsein, das Kinder zu Pflegern ihrer eigenen Eltern macht. «Die Jugendlichen empfinden es als ganz selbstverständlich zu helfen», sagt Agnes Leu (49). Sie forscht an der Careum Hochschule Gesundheit in Zürich über Jugendliche, die Angehörige pflegen. Im Fachjargon nennt man sie «Young Carers», junge Pflegende.
Lara Hauser (11) aus Wolfwil SO ist gerade fleissig am Malen. Gemeinsam mit ihren Gspändli fertigt sie bunte Tischsets, um sie dann zu verkaufen. Die Aktion dauert 90 Tage, jetzt ist Halbzeit und bisher kamen schon 30'000 Franken zusammen. Ursprüngliches Ziel war 35'000 Franken. Der Erlös soll an Kinder und Jugendliche gehen, die Angehörige pflegen. «Ich wollte etwas machen für Kinder, die es nicht so gut haben wie ich», sagt Lara. «Wenn ich zum Spielen rausgehen kann, müssen sie Zuhause mithelfen und andere pflegen.»
Die Tischsets verkauft Lara Hauser im Rahmen der Aktion «Gottardo», die vom Lions Club Schweiz-Liechtenstein ins Leben gerufen wurde und die zum Ziel hat, auf das Thema Young Carers aufmerksam zu machen und sie zu unterstützen. Im September soll ein Spendenmarsch durch die Schweiz stattfinden. Mit den Spenden unterstützt wird auch Agnes Leu (49), die an der Careum Hochschule Gesundheit in Zürich zum Thema forscht.
Lara Hauser (11) aus Wolfwil SO ist gerade fleissig am Malen. Gemeinsam mit ihren Gspändli fertigt sie bunte Tischsets, um sie dann zu verkaufen. Die Aktion dauert 90 Tage, jetzt ist Halbzeit und bisher kamen schon 30'000 Franken zusammen. Ursprüngliches Ziel war 35'000 Franken. Der Erlös soll an Kinder und Jugendliche gehen, die Angehörige pflegen. «Ich wollte etwas machen für Kinder, die es nicht so gut haben wie ich», sagt Lara. «Wenn ich zum Spielen rausgehen kann, müssen sie Zuhause mithelfen und andere pflegen.»
Die Tischsets verkauft Lara Hauser im Rahmen der Aktion «Gottardo», die vom Lions Club Schweiz-Liechtenstein ins Leben gerufen wurde und die zum Ziel hat, auf das Thema Young Carers aufmerksam zu machen und sie zu unterstützen. Im September soll ein Spendenmarsch durch die Schweiz stattfinden. Mit den Spenden unterstützt wird auch Agnes Leu (49), die an der Careum Hochschule Gesundheit in Zürich zum Thema forscht.
«Es gibt in der Schweiz rund 51’000 Young Carers im Alter von 9 bis 16 Jahren», sagt Leu. Bei den über 16-Jährigen soll jeder zehnte Heranwachsende ein Young Carer sein. Leu beruft sich dabei auf zwei von ihr geleitete Studien im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit sowie für den Schweizerischen Nationalfonds.
«Die betroffenen Jugendlichen sprechen meist nicht über ihre Situation», sagt die Expertin. «Weil sie sich schämen oder befürchten, es schade der Familie, wenn andere von ihrer Situation erfahren.»
Young Carers kämpfen mit verschiedenen Problemen
Sarah Ketterer musste irgendwann sprechen. Als sie sieben Jahre alt war, litt sie unter Schlafproblemen. Sie konnte keine Nacht durchschlafen, schreckte mitten in der Nacht auf und rief nach der Mutter. Im Unterricht zog sie sich zurück und hatte Mühe, sich zu konzentrieren.
Schliesslich fand die Familie eine Psychologin, die Sarah bis heute begleitet. Weil sie die dritte Klasse wiederholen durfte, gehören auch die Schulprobleme der Vergangenheit an. «Die Schule kam uns sehr entgegen», sagt Silvia Ketterer. Sarah durfte in den Nebenfächern Hausaufgaben machen, damit sie zu Hause Zeit für die Pflege hatte.
Wie hilft man diesen Jugendlichen am besten? «Nicht jeder braucht professionelle Unterstützung», sagt Expertin Leu. «Manche wünschen sich einfach ab und an eine Person, die ihnen unter die Arme greift, oder jemanden, den sie im Notfall anrufen können.» Das könne eine Nachbarin, ein Lehrer oder sonst ein Bekannter sein.
Grundlage dafür ist, dass das Umfeld die Situation der Familie kennt. «Deshalb ist es wichtig, dass sensibilisiert wird», sagt Leu.
Eine Internetseite für junge Pflegende
Es gibt aber auch Jugendliche, die psychologische Hilfe oder eine Pflegeperson brauchen, weil sie es alleine nicht mehr schaffen. Für diese Fälle soll es in drei Jahren ein Online-Tool geben, das jungen Pflegenden hilft, nach kostenloser Unterstützung zu suchen.
Sarah Ketterer ist froh um die Erfahrungen als Pflegerin ihrer Mutter: «Weil ich dadurch viel selbst mache, bin ich weiter als andere in meinem Alter.» Besonders deutlich wird es bei der Lehrstellensuche. Sarah will medizinische Praxisassistentin werden. «Mir käme nie in den Sinn, meinen Vater zu fragen, mir bei der Lehrstellensuche oder Bewerbung zu helfen», sagt die 15-Jährige. «Ich habe einfach in mir drin, die Dinge selber zu machen.»