Der Entscheid, Russland zu verlassen, fiel am 24. Februar 2022, dem Tag des Kriegsausbruchs. Die russische Investigativjournalistin Jelena Kostjutschenko (36) reiste in die Ukraine, um über den Krieg zu berichten. Doch bereits kurz nach ihrer Ankunft musste sie fliehen. Sie habe in Lebensgefahr geschwebt, sagt sie. Nur knapp entging sie laut eigenen Angaben einem mutmasslichen Mordanschlag auf Befehl des Tschetschenenführers Ramsan Kadyrow (47).
Es war wohl nicht der einzige Versuch, sie zum Schweigen zu bringen. In Deutschland, wohin sie daraufhin floh, wurde Kostjutschenko 2022 mutmasslich vergiftet. Sie wollte gerade zu einer Reportage aufbrechen, als sie einen Schwächeanfall erlitt. Ihr Zustand verschlechterte sich daraufhin von Stunde zu Stunde.
Während die deutsche Justiz ermittelt, hat Kostjutschenko ihre Beziehung zu ihrer Heimat in einem Buch aufgearbeitet. «Das Land, das ich liebe» enthält nebst Reportagen, die sie für die «Nowaja Gaseta» geschrieben hat, autobiografische Kapitel, die nach ihrer Flucht entstanden sind.
Diese Woche reiste sie nach Genf, um an einer Veranstaltung ihr Buch vorzustellen. Blick hat sich mit ihr zum Interview verabredet. Im Gespräch gibt sie einen schwindelerregenden Einblick in die Realität einer Journalistin, die unter dem Putin-Regime gearbeitet hat – und die auch im Exil immer noch für die Freiheit des Sprechens und Schreibens kämpft.
Sie haben zwei mutmassliche Mordanschläge des russischen Regimes überlebt. Wachen Sie morgens mit Angst auf?
Jelena Kostjutschenko: Als ich nach Westeuropa kam, fand ich zunächst eine Ruhe, die ich schon lange nicht mehr gekannt habe. Ich fühlte mich anfangs wirklich sicher. Für einen kurzen Moment hatte ich keine Angst mehr. Aber seit dem Vergiftungsversuch in Deutschland ist mein Gemütszustand wieder derselbe wie während der Zeit, als ich in Russland arbeitete.
Das heisst?
Wenn man in Russland vor dem Krieg als Journalistin für ein unabhängiges Medium arbeitete, wusste man, dass man täglich Risiken eingeht. Man hat immer im Wissen gearbeitet, dass man dabei sterben könnte. Es gab ein ganzes Sicherheitsprotokoll, um diese Risiken zu minimieren – bevor die unabhängigen Redaktionen ganz geschlossen werden mussten. Heute arbeite ich für das unabhängige, sich im Exil befindende russische Medium «Meduza». Seit ich dort bin, halte ich mich auch an ein Protokoll, um mich so gut wie möglich zu schützen. Aber diese «Verhaltensregeln» bieten keine hundertprozentige Sicherheit ...
Wie sehen diese Protokolle aus?
Ich kann sie natürlich nicht vollständig offenlegen, weil sie sonst nutzlos wären. Aber was ich sagen kann, ist, dass ich zum Beispiel auf der Strasse immer darauf achte, wer vor oder hinter mir geht. Ich achte sehr darauf, welche Kommunikationskanäle ich benutze und welche Informationen ich weitergebe, sei es per Telefon oder per E-Mail.
Das kann einen auf Dauer schon ein bisschen paranoid machen ...
Eigentlich ist es so sehr zum Automatismus geworden, so zu leben, es ist, als würde ich mir die Zähne putzen. Mit der Zeit merke ich gar nicht mehr, dass das keine normale Existenz ist. Seit dem Vergiftungsversuch halte ich mich wieder an all diese Protokolle – und habe sie mit Hilfe meiner Kollegen sogar noch ergänzt. In Westeuropa fühle ich mich jetzt nicht mehr so sicher. Aber ich bin es eindeutig gewohnt, mich nicht sicher zu fühlen, also ist es nicht so schlimm (lacht nervös). Ich würde sagen, dass ich in dieser Hinsicht jetzt emotional losgelöst bin. Bei meiner Partnerin ist das jedoch nicht der Fall.
Fürchtet sie um Ihr Leben oder um das Ihrer Freundin?
Sie hat nicht die Erfahrungen gemacht, die ich aufgrund meines Berufs gemacht habe. Diese Situation der ständigen Unsicherheit ist für sie ziemlich neu. Sie ist emotional sehr betroffen. Wenn eine Tür zu laut zuschlägt oder Schritte etwas zu schwer erscheinen, zuckt sie zusammen und ist schnell wie gelähmt. Das letzte Mal, als das passiert ist, waren wir in einem Café.
Was genau ist passiert?
Jemand feierte seinen Geburtstag, der Kellner kam mit einer Konfettikanone und liess sie hinter uns explodieren – ohne dass wir sie kommen sahen. Als es knallte, beugte sich meine Freundin reflexartig vor und versuchte, mich mitzuziehen, um mich zu schützen.
Ihre Freundin reist also mit Ihnen. Was ist mit dem Rest Ihrer Familie, die, wie ich annehme, in Russland geblieben ist?
Ja, meine Mutter und meine Schwester sind in Russland. Ich muss zugeben, dass ich seit dem Einmarsch in die Ukraine einige Schwierigkeiten mit meiner Mutter hatte, die vor lauter Propaganda im Fernsehen zunächst das russische Regime unterstützte. Aber schliesslich kam sie zur Vernunft und merkte, dass mit den Informationen, die wir vom Staat erhielten, tatsächlich etwas nicht stimmte.
Das zweite Mal, dass Sie sagten, Sie hätten um Ihr Leben gefürchtet, war in Deutschland. Moskau hat also einen langen Arm: Gibt es ein ganzes Netzwerk von Kreml-Agenten, die undercover in Europa arbeiten und bereit sind, das Poloniumfläschchen zu ziehen?
Ich persönlich habe nie an Themen gearbeitet, die direkt mit dem russischen Auslandsgeheimdienst in Verbindung stehen. Aber Kollegen von exilrussischen Medien wie «The Insider» und «Bellingcat» konnten etwa 70 russische Geheimdienstler in Europa identifizieren und haben begonnen, diese Informationen zu veröffentlichen. Der russische Geheimdienst war schon früher in die Ermordung von Oppositionellen verwickelt gewesen. Mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine könnten sich ihre Ziele jedoch geändert haben.
Hat der Geheimdienst früher weniger Journalisten ins Visier genommen?
Früher waren seine Hauptziele ehemalige Agenten des Inlandsgeheimdiensts (FSB), wie der Oppositionspolitiker und Whistleblower Alexander Litwinenko. Nun scheint es, dass russische Journalisten auch in Europa nicht sicher sind.
Heute wird das Schicksal des postsowjetischen Russlands gerne mit dem Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg verglichen: gedemütigt, geschwächt und wütend auf Europa. Teilen oder verstehen Sie trotz Ihrer kremlkritischen Haltung die Frustration der Russen gegenüber dem Westen?
Ich denke, dass dieser Vergleich mit Deutschland nach 1918 ziemlich treffend ist. Das gilt auch für den Unmut, den Russland gegenüber seinen Nachbarn und sich selbst empfindet. Am Ende der UdSSR, zu Beginn der chaotischen Perestroika-Periode in den 1990er-Jahren, hatten viele Menschen noch die Hoffnung, dass sich ihr Leben mit dem Fall der Mauer und der Öffnung Russlands zur Welt verbessern würde.
Das Gegenteil war der Fall.
Die 1990er-Jahre waren in Russland eine Zeit der Kriminalität und der allgemeinen Verarmung der Gesellschaft. Viele Menschen verloren ihre Arbeit. Meine Mutter, die an der Universität Chemieforscherin war, musste schliesslich Böden schrubben, um über die Runden zu kommen. In den Spitälern gab es einen Mangel an Medikamenten. Es war eine schreckliche Zeit und es dauerte nicht lange, bis die Menschen sehr nostalgisch gegenüber der Sowjetunion waren.
Was ist das grösste Missverständnis, das in den westeuropäischen Ländern über Russland nach dem 24. Februar 2022 und über seine Bevölkerung gibt – und das Sie gerne korrigieren würden?
Die Behauptung, dass die russische Bevölkerung den Krieg in der Ukraine unterstützt, ist falsch! Soweit ich sehen und lesen konnte, halten die westlichen Medien diese falsche Vorstellung aufrecht, indem sie die Zahlen des Kreml über die Unterstützung des Volkes für den Krieg in der Ukraine und für Putin wiedergeben. Wenn die Europäer Putin ernsthaft verdächtigen, die Wahlen zu manipulieren, glauben Sie dann wirklich, dass die Meinungsumfragen seiner Regierung zuverlässig sind?
Wo finden Sie Ihrer Meinung nach zuverlässige Daten?
Sie sollten die Zahlen der NGOs anschauen, nicht die der Regierung. Denn was die Menschen öffentlich und privat sagen, ist sehr unterschiedlich, und das darf man angesichts der Unterdrückung von Dissidenten nicht vergessen. Laut einer unabhängigen Studie einer Nichtregierungsorganisation, die demnächst veröffentlicht wird und deren genaue Quelle ich noch nicht nennen kann, unterstützen in Wirklichkeit nur 15 Prozent der russischen Bürger den Krieg. 15 Prozent sind strikt dagegen. Die restlichen 70 Prozent? Sie geben an, ihn zu «tolerieren».
Warum stürzt das Volk dann nicht seinen Führer, den es laut Ihren Zahlen nicht mehr haben will?
Weil die Strafen für eine kritische Äusserung über die Behörden in der Öffentlichkeit oder in sozialen Netzwerken heute von einer hohen Geldstrafe bis zu 15 Jahre Gefängnis reichen. Jeden Tag wird ein sogenannter Oppositioneller ins Gefängnis geworfen, um ein Exempel zu statuieren und für jede noch so kleine Kritik an der Regierung. Aber es ist auch wahr, dass das russische Volk ziemlich daran gewöhnt ist, in Angst zu leben. Die Sowjetunion hat das kollektive Gedächtnis in dieser Hinsicht enorm geprägt. Heute erinnert man sich besonders an sie, leider zu Recht: Die Unterdrückungsmechanismen sind denen der UdSSR ähnlich.
Vermissen Sie Russland?
Ja, sehr. Ich träume jede Nacht davon, es verfolgt mich.
Und wovon genau träumen Sie?
Von meinem Alltag, als ich dort war. Von der Redaktion der «Nowaja Gaseta». Vom kleinen Dorf, in dem meine Mutter lebt. Aber ich weiss, dass ich mein Leben und meine Freiheit riskiere, wenn ich jetzt zurückkehre, und dass ich am Flughafen verhaftet werden könnte.
Könnte Russland eines Tages eine Demokratie werden?
Ja, natürlich, aber diese Demokratie muss aufgebaut werden. Und dazu ist ein Regimewechsel notwendig. Ohne eine neue Revolution wird es in Russland keine Demokratie geben. Das muss man in Angriff nehmen.