Frau Büchler, verstehen Sie, wenn Leute skeptisch sind gegenüber der Impfung?
Andrea Büchler: Ich respektiere andere Meinungen und anerkenne, dass Unsicherheiten oder Ängste bestehen. Es ist aber wie bei vielem in unserem arbeitsteiligen Leben: Ich muss mich auf Expertinnen und Experten verlassen, wissenschaftlichen Erkenntnissen vertrauen.
Warum vertrauen Sie den Experten?
Gute Frage. Es ist sicher der Glaube an die Wissenschaft, die wesentlich zum Fortschritt beiträgt. Auch in anderen Bereichen bin ich ständig auf Expertinnen angewiesen – zum Beispiel wenn ich Essen kaufe. Fachpersonen haben geprüft, dass die Lebensmittel nicht schädlich sind. Das kann ich nicht selbst nachprüfen. Ich habe Vertrauen, dass die Impfforscher und die Zulassungsgremien ihre Arbeit gut machen.
Ein Bauer aus dem Toggenburg könnte sagen: Kein Wunder, dass sie anderen Experten traut, sie ist ja selbst Expertin.
Ich bin beim Nutzen und der Wirkung der Impfung auch keine Expertin. Und der Bauer ist doch auch ein Experte. Er kann und weiss Dinge, von denen ich keine Ahnung habe. Da bin ich auf seine Expertise angewiesen.
Aber was Sie entscheiden, betrifft den Bauern sehr direkt. Und er sitzt nicht mit am Tisch, wenn «die da oben» in komplizierten Worten über seine Belange entscheiden.
So ist es nicht. Die Nationale Ethikkommission trifft keine Entscheide. Sie berät, informiert und nimmt Stellung zu medizinischen Fragen. In der Schweiz sind wir es gewohnt, dass über anspruchsvolle Themen lange Zeit verhandelt wird. Und dass wir am Ende mitbestimmen können. In der jetzigen Situation ist es aber nicht immer möglich, jene Debatten zu führen, die bei diesen komplexen Themen notwendig wären. Es eilt häufig. Aber die Demokratie ist deswegen nicht ausgehebelt.
Andrea Büchler (52) ist Professorin für Privatrecht an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich und präsidiert seit fünf Jahren die Nationale Ethikkommission. Das Gremium berät und informiert den Bund, das Parlament und die Öffentlichkeit zu ethischen Fragen in der Medizin. Die Stellungnahmen der Kommission sind öffentlich einsehbar.
Andrea Büchler (52) ist Professorin für Privatrecht an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich und präsidiert seit fünf Jahren die Nationale Ethikkommission. Das Gremium berät und informiert den Bund, das Parlament und die Öffentlichkeit zu ethischen Fragen in der Medizin. Die Stellungnahmen der Kommission sind öffentlich einsehbar.
Haben Sie Bekannte oder Kolleginnen, die sich nicht impfen lassen?
Ja. Menschen unterschiedlichster Hintergründe, darunter auch Ärztinnen.
Was sind ihre Gründe?
Einer Ärztin ist die Zulassung zu schnell gegangen Corona-Impfung. Werden die Nebenwirkungen genug ernst genommen? Aber was wären die Alternativen gewesen? Am anderen Ende des Spektrums sagen Personen: wenn die Impfung schon früher, in der Testphase, eingesetzt worden wäre. Und alle machen ihre Freiheit geltend, selbst über ihren Körper zu entscheiden.
Ist das nicht egoistisch?
Grundsätzlich ist diese Sensibilität für das Recht auf körperliche Unversehrtheit etwas Positives. Ein zentrales Gut. Ein Impfzwang ist weder ethisch noch rechtlich gerechtfertigt. Es gibt aber eine moralische Pflicht, sich zu überlegen, was die persönlichen Entscheide für die Gesellschaft bedeuten. Die Pandemie hat uns gelehrt, dass das individuelle Wohl und das Gemeinwohl eng miteinander verzahnt sind. Die Gesundheit und die Freiheit der einzelnen Person ist auch vom Impfschutz anderer abhängig. Wir kommen nur gemeinsam aus dieser Situation wieder raus.
Apropos Moral: Gehört man zu den Guten, wenn man sich impfen lässt?
Gut und Böse sind keine sinnvollen Kategorien. Wir müssen kommunikativ de- und nicht weiter eskalieren. Diese scheinbare moralische Überlegenheit müssen wir ablegen und zu sanfteren, versöhnlicheren Tönen Streitfrage Covid-Impfung «Ich empfehle, dem Gegenüber offene Fragen zu stellen» übergehen. Niemand soll für seine Entscheidung an den Pranger gestellt werden.
Was genau heisst kommunikativ deeskalieren?
Wir sollten die unterschiedlichen Gründe für das Nichtimpfen erkennen und akzeptieren, dass es verschiedene Empfindungen gibt, was körperliche Unversehrtheit und Freiheit ausmacht. Und dass wir unterschiedliche Dinge als Bedrohung wahrnehmen. Ich glaube, beide Seiten täten gut daran, einen Schritt zurück- und dann wieder aufeinander zuzugehen.
Das tönt so einfach.
Und fast ein bisschen päpstlich. Oder auch banal. Aber das ist es nicht.
Wie sollte man denn reden, um diesen Graben nicht noch weiter heraufzubeschwören?
Der erste und einfachste Schritt wäre: sich klarmachen, dass wir alle aus dieser Situation wieder herauskommen wollen – mit so wenig Schaden wie möglich. Der zweite: sich wirklich ums Gespräch bemühen.
Haben die Behörden zu wenig kommuniziert?
Man hat noch nicht alle Personen mit dem Impfappell erreicht. Das hat vielleicht mit Sprachbarrieren oder mangelndem Zugang zu Informationen und anderen Ressourcen zu tun. Das hätte man tatsächlich schon früher erkennen und sensibler angehen können.
In der Schweiz vertrauen wir darauf, dass die Behörden nur richtige Informationen veröffentlichen. Das war in der Pandemie nicht immer der Fall.
Wir wurden von diesem Virus überrascht. Alle handeln bei einem Virus wie dem jetzigen unter Unsicherheit und Unwissenheit – Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger, aber auch jede einzelne Person. Das wurde womöglich zu wenig klar kommuniziert – oder aufgrund der Einschränkungen, die uns so direkt betreffen, nicht gehört. Und da werden mitunter Informationen kommuniziert, die sich später als falsch herausstellen – wie etwa bei der Maskenpflicht.
Sind jetzt die Informationen genug transparent, zum Beispiel, dass noch nicht alle Studien zur Impfung abgeschlossen sind?
Ich denke, es ist vieles besser geworden. Die Dynamik ist aber nach wie vor gross und so auch der Informationsbedarf. Das sieht man bei der Zertifikatspflicht. Es ist noch nicht lange her, da konnten sich auch die Entscheidungsträger eine solche nicht vorstellen. So hat Bundesrat Alain Berset diese vor noch nicht allzu langer Zeit als «bizarr» bezeichnet.
Ist die Einführung der Zertifikatspflicht denn nun ethisch gerechtfertigt?
Sie stellt einen Eingriff in die individuelle Freiheit dar. Dieser ist gerechtfertigt, wenn er einen legitimen Zweck verfolgt und verhältnismässig ist. Das Zertifikat wurde eingeführt, um eine Gefährdung der Gesundheitsversorgung abzuwenden, weil mildere Massnahmen wie die Maskenpflicht offenbar nicht ausreichend waren. Das allein rechtfertigt die Zertifikatspflicht. Es ging in der Diskussion um die Optionen Zertifikatspflicht oder Schliessung von Betrieben – und zwar für alle. Und da kommt auch die Rechtsgleichheit zum Tragen: Gleiches ist gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Wenn Geimpfte, Genesene und Getestete am Infektionsgeschehen nicht massgebend beteiligt sind, ist es schwierig, ihnen gegenüber Schliessungen zu rechtfertigen.
Dieser Artikel wurde aus dem Magazin «Beobachter» übernommen. Weitere spannende Artikel finden Sie unter www.beobachter.ch
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Geimpfte könnten also gegen einen erneuten Shutdown klagen?
Ich will nicht zum Prozessieren aufrufen. Aber eine Einschränkung ihrer grundrechtlichen Positionen ist schwer zu rechtfertigen, wenn sie keine Gefährdung darstellen.
Man könnte auch argumentieren, dass die Lockerungen im Sommer zu früh waren und zu weit gingen und wir deshalb nun eine Zertifikatspflicht haben.
Das ist ja kein Argument gegen die jetzige Zertifikatspflicht. Kritik an den Bundesratsmassnahmen von damals kann man schon üben, zur Bewältigung der aktuellen Situation trägt sie aber wenig bei.
Ist es ethisch vertretbar, dass – fast zeitgleich mit der Zertifikatspflicht – die Covid-Tests kostenpflichtig werden?
Nein, das erachte ich als problematisch. Es muss eine echte Alternative zur Impfung geben, sonst kommt es einer indirekten Impfpflicht zumindest nahe. Wir haben uns darauf verständigt, dass Impfen eine persönliche Entscheidung ist, die man sich leisten können muss.
Ist es gerecht, dass Geimpfte für die Freiheit der Ungeimpften via Steuergelder Millionen zahlen müssen?
Diese Frage trennt die Menschen wieder nach ihrer Impfentscheidung. Die Freiheit ist ein hohes Gut, das seinen Preis hat. Das Zertifikat gibt uns im Moment gewisse Freiheiten zurück, auch den Geimpften. Persönlich bin ich aber klar der Meinung, dass gute Gründe – nicht nur medizinische und epidemiologische, sondern auch moralische und solche der gesellschaftlichen Solidarität – für die Impfung sprechen.
Falls am 28. November das Referendum gegen das Covid-Gesetz angenommen und damit das Covid-Zertifikat wieder abgeschafft wird: Darf der Staat dann erneut einen Shutdown verhängen – auch für Geimpfte?
Sollte es dazu kommen – was ich mir nicht wünsche –, hoffe ich, dass ein Shutdown nicht als einzige mögliche Massnahme verbleibt. Denn es ist die schwerste. Und es wäre gegenüber geimpften und genesenen Personen schwierig zu begründen, warum sie zu gewissen Orten keinen Zutritt haben sollen. Denn von ihnen geht nach heutigem Wissensstand keine massgebliche Gefahr für das Gesundheitssystem und ungeimpfte Personen aus. Ein Shutdown wäre ein unverhältnismässiger Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit und in die persönliche Freiheit von geimpften Personen.
Manche behaupten ja, sie werden durch das Zertifikat diskriminiert. Werden die Minderheiten heute genug gehört?
Wen betrachten Sie als Minderheit?
Die Ungeimpften.
Ich könnte andere Minderheiten bilden, etwa die der Kinobesitzer. Da sind wir wieder bei dieser Schubladisierung von Menschen. Das ist nicht hilfreich.
Angenommen, die Zertifikatspflicht wirkt. Ab wann muss der Bund sie wieder aufheben?
So rasch wie möglich. Diese Massnahme ist nur gerechtfertigt, solange die öffentliche Gesundheit gefährdet ist. Der Bundesrat hat sie vorerst bis zum 24. Januar 2022 befristet und betont, sie würde aufgehoben, wenn sich die Situation entspannt. Er hat aber keine Kriterien formuliert, die erfüllt sein müssen, damit die Zertifikatspflicht aufgehoben werden kann. Indikatoren wären aber wichtig, Ich bin nicht qualifiziert, solche zu nennen. Aber aus ethischer und rechtlicher Sicht ist klar: Es muss immer wieder überprüft werden, ob das Zertifikat noch notwendig ist und ob es keine milderen Massnahmen gibt, um die öffentliche Gesundheit zu schützen.
Was möchten Sie den Impfgegnern mit auf den Weg geben?
Vertrauen.
Und den Massnahmengegnern?
Zuversicht, dass es wieder aufwärts geht und wir die Situation gemeinsam meistern werden. Ich bin überzeugt, dass die Unbeschwertheit irgendwann zurückkehrt. Und schliesslich ist es doch ab und zu gut, sich darauf zu verständigen, dass es nebst Corona noch andere wichtige, ja existenzielle Dinge gibt, über die zu diskutieren und zu streiten sich lohnt.