Plötzlich stören sich viele Parlamentsmitglieder an der warmen Progression, also daran, dass wir zu viel Steuern zahlen, weil der Lohnanstieg, der vom Wirtschaftswachstum herrührt, nicht ausgeglichen wird.
Laut der liberalen Denkfabrik Avenir Suisse hat die Schweizer Bevölkerung durch diese allein im Jahr 2020 rund 800 Millionen Franken zu viel direkte Bundessteuer bezahlt, wie Blick berichtete. Rechnet man Kantone und Gemeinden mit ein, sind es sogar an die drei Milliarden.
Vor allem der Mittelstand ist betroffen
Das Thema ist nicht neu. Schon 2019 reichte FDP-Ständerat Andrea Caroni (43) einen Vorstoss dazu ein. Doch damals fand der Ostschweizer keine Mehrheit. Dank der Avenir-Suisse-Zahlen findet das Anliegen, die warme Progression auszugleichen, nun mehr Gehör – dies wohl auch, weil im Oktober die Parlamentswahlen anstehen.
So fordert beispielsweise auch SP-Nationalrätin Sarah Wyss (35) mit Blick auf die Studie, das System auf allen Ebenen anzupassen. Sie sagt: «Die warme Progression trifft vor allem den Mittelstand.» Und das wegen der Steuerprogression. Denn eigentlich sollten die Steuern gleich stark wie die Reallöhne wachsen.
Aber wie die Avenir-Suisse-Studie aufzeigte, stiegen die Reallöhne in der Schweiz von 2010 bis 2020 um 8,4 Prozent an. Doch die Einkommenssteuern stiegen beim Bund in diesem Zeitraum um sage und schreibe 16 Prozent.
Besonders ungerecht: Die Topverdiener befinden sich bereits in der obersten Steuerklasse. Ein solcher Anstieg ist bei ihnen also gar nicht mehr möglich. Sie werden bei der warmen Progression geschont, während die Steuern vor allem für den Mittelstand zunehmen. Dabei bestünde in der Schweiz eigentlich der Grundsatz, dass wir alle Steuern nach unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bezahlen müssen.
So verlangt die Sozialdemokratin Sarah Wyss, dass die warme Progression ausgeglichen wird. Aber: «Wir dürfen dem Staat nicht das Geld aus der Tasche ziehen.» Momentan spare der Bund, obwohl wichtige Investitionen anstehen würden, beispielsweise in den Klimaschutz. Daher müsse man Gegenmassnahmen ergreifen, damit der Staat kein Geld verliere. Wyss denkt unter anderem daran, wieder einmal das Thema der Erbschaftssteuer aufzunehmen. Sie sagt: «Ohne Gegenmassnahmen hat der Staat ein Finanzproblem.»
Abklären statt sofort ausgleichen
Hingegen plädiert der Mitte-Ständerat Erich Ettlin (61) dafür, die heutige Situation genau zu analysieren. Der Steuerexperte und ehemalige Vorsteher der kantonalen Steuerverwaltung Obwalden sagt: «Den jetzigen Stand einfach hinzunehmen, wäre zynisch gegenüber dem Mittelstand. Denn diese Schicht hat bereits hohe Ausgaben, da es für sie beispielsweise keine Prämienverbilligungen gibt.» Ob allerdings eine Ausgleichung der warmen Progression die richtige Lösung ist, müsse man zuerst prüfen. Und deshalb möchte er das Thema in die Wirtschaftskommission des Ständerats einbringen.
Nicht länger abwarten will jedoch Andrea Caroni. Der Ausserrhoder erklärt: «Ich werde in der Herbstsession eine Motion dazu einreichen, damit der Ständerat schon im Winter darüber beraten kann.» Denn gehe es weiter wie bisher, sei irgendwann der ganze Mittelstand in der höchsten Steuerklasse. Und aus Sicht von Caroni wären das «massive und asoziale Steuererhöhungen».
Der Freisinnige hofft, dass «der Bundesrat diesmal bei einer Lösung mitmacht» – anders als bei seinem letzten Vorstoss 2019. Dieser wurde knapp abgelehnt, mit 16 zu 13 Stimmen bei 5 Enthaltungen. Daher sieht der FDP-Politiker nun, beflügelt durch die Avenir-Suisse-Studie, gute Chancen für einen neuen Vorstoss.