Herr Lauber, Formel-1-Star Ralf Schumacher hat sich im Alter von 49 Jahren geoutet. Sollte uns das im Jahr 2024 noch beschäftigen?
Michael Lauber: Ja. Leider. Homosexualität ist noch lange nicht so selbstverständlich, wie wir denken.
Ein männlicher Profisportler outet sich meist erst nach der Karriere. Welche Bereiche sind noch tabu?
Mein ehemaliges Metier, die Justiz, ist ein sehr konservatives Geschäft. Ich kenne nur wenige offen schwule Männer in der Justiz.
Ruth Dreifuss hat einmal gesagt: «Wenn ich lesbisch wäre, hätte ich mich längst geoutet!» Es soll alt Bundesräte geben, die im Geheimen Sex mit Männern hatten. Ist die Schweiz noch nicht reif für einen schwulen oder lesbischen Bundesrat?
Die Schweiz ist zwar insgesamt eine liberale Gesellschaft. Und wenn man die Bundesräte fragen würde, ob sie mit einem offen schwulen Kollegen klarkämen, würde die Antwort lauten: Klar, kein Problem! Trotzdem bin ich der Überzeugung, dass es noch ein Tabu ist.
Warum?
Ich bin 58, die meisten Bundesräte sind etwa in meinem Alter. Für diese Altersgruppe war Homosexualität nicht etwas Normales. Schwulsein bedeutete wahrscheinlich in ihrer Jugend wie für mich Aids, Tod, Stigmatisierung, Verachtung, Ausgrenzung, Isolation. Für eine jüngere Generation mag das anders sein. Und trotz aller liberalen Gesellschaftsbedingungen: Ein Coming-out ist immer sehr individuell, deshalb kann das selbst für einen jungen Mann heute noch schwer sein.
Der Jurist Michael Lauber (58) leitete von 2012 bis 2020 die Bundesanwaltschaft. Danach machte er sich selbständig und berät Organisationen und Firmen im Bereich Wirtschaftskriminalität. Lauber lebt seit 2007 mit seinem Partner in einer eingetragenen Partnerschaft: «Unsere Liebe war lange Zeit für die Schweiz nur eine Liebe zweiter Klasse.» Heiraten will er seinen Partner nicht – aus Protest, weil die Schweiz homosexuelle Paare lange Zeit diskriminiert hat.
Der Jurist Michael Lauber (58) leitete von 2012 bis 2020 die Bundesanwaltschaft. Danach machte er sich selbständig und berät Organisationen und Firmen im Bereich Wirtschaftskriminalität. Lauber lebt seit 2007 mit seinem Partner in einer eingetragenen Partnerschaft: «Unsere Liebe war lange Zeit für die Schweiz nur eine Liebe zweiter Klasse.» Heiraten will er seinen Partner nicht – aus Protest, weil die Schweiz homosexuelle Paare lange Zeit diskriminiert hat.
Wann haben Sie gemerkt, dass Sie schwul sind?
Ich habe schnell gemerkt, dass ich mich von Frauen weder romantisch noch sexuell angezogen fühle. Meinen ersten Kuss hatte ich mit 14.
Ihr Vater ist christkatholischer Pfarrer. Wie hat er reagiert?
Etwas ratlos und überfordert. Wir haben eigentlich nie darüber gesprochen – es war eine sprachlose Situation. Das war, glaube ich, seine Art, damit umzugehen. Er hat aber keinen Zweifel daran gelassen, dass er mich liebt. Und meinen Partner liebt er auch.
Und Ihre Mutter?
Meine Mutter war eine der ersten Frauen in der Schweiz, die Mathematik, Chemie und Physik studiert hatte. Sie hat mein Outing zur Kenntnis genommen. Ich verstehe die Sprachlosigkeit meiner Eltern. Es gab keine Vorbilder, keine Vergleichspunkte. Heute können Eltern sagen: Der und der ist auch schwul, kein Problem. Vorbilder sind ganz wichtig.
Wie viele Ralf Schumachers kennen Sie? Also Familienväter mit einem Doppelleben?
Einige.
Warum trauen sie sich nicht, sich zu outen?
Das ist sehr individuell, denke ich. Oft ist es ein Pflichtgefühl gegenüber der Frau, der Familie, den Kindern, der Karriere. Ich kenne auch Familienväter, die sich nicht als schwul oder bisexuell definieren. Schwul oder bisexuell sein ist Teil der Persönlichkeit, es gehört mehr dazu als nur Sex. Deshalb kann es für sie kein Problem sein, ab und zu mit einem Mann ins Bett zu springen.
Definieren Sie sich als schwuler alt Bundesanwalt?
Nein, auf keinen Fall (lacht). Umgekehrt ist richtig: Ich war Bundesanwalt und schwul. Mein Schwulsein definiert nicht alles. Lange Zeit habe ich das Wort schwul auch gemieden. Das englische Wort «gay» finde ich schöner: Es heisst «fröhlich, vergnügt».
Nicht alle Schwule sind fröhlich und vergnügt.
Das stimmt. Das Gefühl, nicht dazuzugehören, war schwierig. Deshalb meinte ich, super männlich auftreten zu müssen, das würde helfen. Als ich in der Rekrutenschule war, war es offiziell verboten, im Militär schwul zu sein. Ich glaube, das hiess damals widernatürliche Unzucht. Es galt die Devise: «Don't ask, don't tell.» Frag nichts, erzähl nichts!
Die Schwulenorganisation Pink Cross warnt vor homophober Gewalt.
Die steigenden Zahlen sollten uns alle alarmieren. Auch ich wurde einmal angegriffen. Das war am Bahnhof Zürich-Oerlikon vor 20 Jahren. Ich hatte meinen Partner in der Öffentlichkeit geküsst. Dann kamen zwei Männer mit Balkan-Hintergrund und haben mich mit einem Klappmesser bedroht.
Und dann?
Ich habe sieben Jahre lang Judo trainiert. Ohne nachzudenken bin ich auf die Angreifer los und habe sie angebrüllt. Sie sind dann nach einem Moment zurückgewichen und verschwunden. Zwei Stunden lang war ich fix und fertig. Mir haben die Knie gezittert. Es war grauenhaft.
Haben Sie Anzeige erstattet?
Nein. Heute würde ich Anzeige erstatten. Aber damals wollte ich nicht wahrhaben, was geschehen war.
Kann Justizminister Beat Jans mehr machen, um Homophobie zu bekämpfen?
Ich finde es wichtig, dass wir uns überlegen, wie wir Hassverbrechen effizient bekämpfen können. Juristische Normen haben aber trotz allem letztlich nur begrenzt Einfluss auf die Gesellschaft. Am Ende muss jeder für sich selber einstehen, jeden Tag, immer wieder.
Ist es nicht Aufgabe des Staates, alle zu schützen?
Doch. Aber Sie können nicht alles verordnen. Toleranz und Respekt sind Haltungen und kein Gesetz. Ich bin nach wie vor von dem überzeugt, was ich als Bundesanwalt gesagt habe: Wir brauchen ein hartes Strafrecht für die schweren Fälle – dann kann es glaubwürdig und konsequent umgesetzt werden. Alles andere droht unser Justizsystem zu überlasten und ist letztlich kontraproduktiv.
Sie hatten als Bundesanwalt auch mit dem Ausland zu tun. Wie waren Ihre Dienstreisen nach Ägypten und nach Russland?
Offiziell war meine sexuelle Orientierung kein Thema. Ein Erlebnis in Zentralasien hat mich sehr berührt: Ein Kollege hat zu mir gesagt, dass sein Sohn schwul sei. Es war ein sehr persönliches, vertrauensvolles Gespräch.
Wie haben Sie reagiert?
Ich habe ihm gesagt, er solle seinen Sohn weiterhin lieben und als seinen Sohn ansehen. Und ich habe ihm gesagt, dass sein Land Zeit brauche.
Kennen Sie das Gefühl mancher Frauen, besser sein zu müssen – weil Sie nicht Teil eines heterosexuellen «Boys Club» sind?
Ja, dieses Gefühl, sich besonders bewähren zu müssen, kenne ich gut.
Sie hatten als Bundesanwalt mit Fifa-Chef Gianni Infantino zu tun. War Homophobie im Fussball Thema Ihrer Gespräche?
Nein.
Infantino erntete in Katar einen Shitstorm, nachdem er gesagt hatte: «Heute fühle ich mich als Araber, heute fühle ich mich afrikanisch. Heute fühle ich mich homosexuell. Heute fühle ich mich behindert …»
Ich habe das als rhetorisch ungeschickten Versuch in Erinnerung. Ich denke, er wollte sagen: «Ich bin für alle da.» Infantino wollte das Richtige sagen, wählte dafür aber missverständliche Worte.
Sie haben sich als Bundesanwalt viele Feinde gemacht. Diese kolportieren Gerüchte, wonach Sie erpressbar seien: Auf einer Bärenjagd in Russland hätten Sie Sex mit jungen Russen gehabt …
Ich kann nur noch lachen, das ist völlig absurd! Ich bin nicht erpressbar. Weder war ich je auf einer Bärenjagd, noch hatte ich Sex auf Dienstreisen. Schmierengeschichten und Verschwörungstheorien verkaufen sich immer gut. Und: Es geht bei dieser Diffamierung nicht nur um Homophobie, sondern um Macht. Als Bundesanwalt war ich manchen ein Dorn im Auge. Also wird eine Story über mich erfunden. Aber nicht, weil ich schwul bin, sondern weil ich damals Macht hatte.
In der Schweiz kann man problemlos mit Exit Suizid begehen. Aber ein schwules Paar muss nach Kalifornien fliegen, um ein Leihmutter-Kind zu bekommen. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?
Ich verstehe das nicht. Ich würde es begrüssen, wenn die Schweiz nicht nur bei der Sterbehilfe, sondern auch bei der Reproduktionsmedizin und beim Adoptionsrecht liberal wäre.
In Zürich war Homosexualität nie verboten – anders als in vielen Ländern. Warum hat die Ehe für alle trotzdem so lange gedauert?
In meinem ersten Jus-Semester habe ich den Satz gehört: «Die Schweiz ist eine Demokratie, Deutschland ist ein Rechtsstaat.» In Deutschland kann das Bundesverfassungsgericht die Politik korrigieren – in der Schweiz geht das nicht. Die Demokratie in der Schweiz ist oft träge und zäh. Deswegen dauert alles lange.
In Pfäffikon ZH wurde ein Lehrer homophob motiviert entlassen. Ein Skandal?
Ich kenne den Fall nur aus den Medien. Sollte die Schulpflege wirklich vor freikirchlichen und islamistischen Extremisten gekuscht haben, wäre das ein Skandal. Die Entlassung des Lehrers wäre rechtswidrig und das Verhalten der Schulpflege eines Rechtsstaates unwürdig.
Die Personensicherheitsprüfung (PSP) der Bundeskanzlei steht in der Kritik. Botschafter und Top-Beamtinnen müssen Fragen zu ihrem Sexleben beantworten. Was denken Sie darüber?
Ein Amtsdirektor hat mich einmal gefragt, ob ich bei der PSP auch so unverschämte Fragen beantworten musste. Da ich vom Parlament gewählt war, musste ich keine PSP machen. Aber ich weiss von meinen ehemaligen Mitarbeitenden in der Bundesanwaltschaft, welchen Unsinn sie zum Teil gefragt wurden. Das ist für alle Beteiligten teilweise nur peinlich. Es braucht ein zeitgemässes Verständnis der PSP.
Haben Sie einen Wunsch?
Ich wünsche mir Respekt und Würde im Umgang mit uns Schwulen. Ich wünsche mir Respekt und Würde im Umgang mit allen Menschen. Ich habe den Eindruck, dass unsere Gesellschaft im täglichen Umgang aggressiver und auch unmenschlicher wird. Respekt und Würde im Umgang ist für alle wichtig, nicht nur im Umgang mit Minderheiten.