Leise – und doch erfolgreich
Das Grünen-Paradox

In der Corona-Krise stehen die Grünen in der zweiten Reihe. Dennoch gewinnen sie eine Wahl nach der anderen.
Publiziert: 21.03.2021 um 13:41 Uhr
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Ungläubiges Staunen ob des Erdrutschsieges bei den nationalen Wahlen 2019: Grünen-Präsidentin Regula Rytz (Mitte).
Foto: KARL-HEINZ HUG
Camilla Alabor

Die Ausgangslage für die Grünen ist denkbar ungünstig: Der Klimawandel als wichtigstes Thema wurde von der Corona-Krise verdrängt, die Angst vor ­einer schweren Wirtschaftskrise nimmt zu. Auch im Bundesrat ist die Partei nicht vertreten – und dies zu einer Zeit, in der die Regierung mehr denn je im Fokus steht.

Gleichzeitig kann von harter ­Oppositionspolitik keine Rede sein: Seit Beginn der Pandemie unterstützen die Grünen den bundes­rätlichen Kurs. Und Balthasar Glättli (49) wirkt als Parteipräsident medial weniger präsent denn als Chef der Bundeshausfraktion, sein vormaliges Amt.

All das scheint den Grünen nichts anhaben zu können. Keine andere Partei hat seit den nationalen Wahlen 2019 in den Kantonsparlamenten so stark zugelegt. Zuletzt zeigte sich das vor zwei Wochen im Wallis und in Solothurn: Im konservativen Bergkanton gewannen die Grünen fünf Sitze (neu 13) im Kantonsparlament hinzu, in Solothurn waren es drei (neu zehn Sitze).

Grüne Welle bleibt ungebrochen

Auch auf sachpolitischer Ebene erzielten die Grünen jüngst einen Achtungserfolg: Mit 51,7 Prozent Ja-Stimmen hiess das Stimmvolk das Freihandelsabkommen mit Indonesien nur sehr knapp gut – ein Resultat, das in der traditionell wirtschaftsfreundlichen Schweiz noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wäre. Als einzige Partei hatten die Grünen das Referendum von Anfang an unterstützt; die SP wechselte erst mitten im Abstimmungskampf das Lager.

Das zeigt: Die grüne Welle bleibt ungebrochen – Corona- und Wirtschaftskrise hin oder her. Nur: ­Inwiefern sind ihre Gewinne wirklich ein Verdienst der Grünen? ­Welcher Anteil geht aufs Konto der Klimajugend? Zumal Wahlkampf während der Corona-Krise ohnehin kaum möglich ist.

Weg von Grünen zur SP ist kurz

Die ehemalige Parteipräsidentin Regula Rytz (59) verweist darauf, dass die Grünen nicht erst seit dem Klimajahr 2019 Wahlen gewinnen. «Wir sind seit 2017 im Aufwind. Das hat auch damit zu tun, dass wir uns als Partei ab 2012 auf die ökologischen Kernthemen konzentriert haben.» Tatsächlich legte der vormalige Präsident Ueli Leuenberger den Fokus stark auf Menschenrechte und ­Globalisierungskritik – inzwischen steht bei den Grünen wieder vermehrt die Umwelt im Zentrum. Der Klimastreik habe zusätzlich eine starke Dynamik ausgelöst, räumt Rytz ein, «das ist eine unglaubliche Leistung».

Michael Hermann findet es indessen «logisch», dass die grüne Welle nun durch jene Kantone rollt, die seit 2019 nicht gewählt haben. «Man darf nicht vergessen, welchen Erdrutschsieg die Grünen vor zwei Jahren hinlegten», sagt der Politikwissenschaftler. «Eine Überraschung wäre eher, wenn die ­Partei jetzt plötzlich einbrechen würde.»

Welche Folgen die Corona-Krise langfristig auf das Wählerverhalten habe, sei schwierig abzuschätzen. Ob die SP im Fall einer schweren Wirtschaftskrise auf Kosten der Grünen profitieren könne, müsse sich erst noch zeigen.

Fest steht: Der Weg der Wähler von den Grünen zur SP ist relativ kurz. Je nach Themenkonjunktur wandern Stimmen von den Grünen zu den Sozialdemokraten und ­umgekehrt. Allerdings sei mit der Klimajugend eine ganze Genera­tion durch die Grünen sozialisiert worden, betont Hermann. «Diese Stimmen werden auch künftig nicht einfach der SP zufliegen.»

«Wir wollen eine horizontale Hierarchie»

Doch leiden die Grünen lang­fristig nicht darunter, dass in der Corona-Krise die Scheinwerfer eher auf das SP-Duo Mattea Meyer (33) und Cédric Wermuth (35) gerichtet sind als auf ihren eigenen Parteichef?

Es sind die Grünen selbst, die dies mitverantworten. «Wir wollen eine horizontale Hierarchie, bei der sich nicht die Parteispitze zu allem äussert», kommentiert Frak­tionschefin Aline Trede (37) einen entsprechenden Beschluss des Frak­tionspräsidiums. Je nach Thema komme deshalb statt des Präsidenten ein Parteimitglied zu Wort, das sich in der Sache am besten auskenne. Das Risiko, dadurch an Sichtbarkeit zu verlieren, nimmt man in Kauf.

Glättli seinerseits hält fest, dass die Grünen seit ihrem Sieg bei den Parlaments­wahlen Mehrheiten für Geschäfte fänden, die vorher chancenlos geblieben wären. Als Beispiel nennt er die Zustimmung des Parlaments zum Stimmrechtsalter 16. Oder den Auftrag an den Bundesrat, die Nationalbank beim Erreichen der Nachhaltigkeitsziele einzubeziehen – beides Anliegen, die von den ­Grünen eingebracht wurden.

Offen bleibt, wie lange das grüne Hoch andauern wird. Der entscheidende Test steht ihnen in etwas über zwei Jahren bevor, anlässlich der nationalen Wahlen: Dann wird sich zeigen, ob den Grünen das Kunststück gelingt, ihre Stärke zu halten. Oder ob von der grünen Welle nur Schaumkrönchen bleiben.

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