Sonntagsblick: Herr Stocker, was haben wir diese Woche erlebt: Unwetter oder Auswirkungen des Klimawandels?
Thomas Stocker: Beides! Unsere Sommer werden immer heisser. Mittlerweile treten Gewitter auch am Morgen auf – vor 50 Jahren haben sie erst am Nachmittag oder Abend stattgefunden. Wir spüren die Folgen der menschengemachten Klima-Erhitzung.
Warum sprechen Sie von Klima-Erhitzung und nicht von Klimawandel?
Wandel ist mir zu unpräzise. Wandel heisst mal rauf, mal runter. Fakt ist: In den letzten 50 Jahren hat eine massive Klima-Erhitzung stattgefunden, weltweit und in der Schweiz sogar doppelt so stark.
Wie dramatisch ist der Sommer 2023?
Kommt darauf an, wen Sie fragen. Für einen Bauern, der für seine Tiere auf der Alp kein Wasser mehr hat, ist das sehr dramatisch. Und wenn Sie mit Fischerinnen bei Burgdorf sprechen, wo die Emme wieder ausgetrocknet ist, dann geht es um dramatische Auswirkungen.
Was sagen Sie zum Argument: «Extremsommer hat es schon immer gegeben»?
Das stimmt. Aber vergleichen Sie die Sommer der letzten 30 Jahre mit den Sommern der 30 Jahre davor. Da sehen Sie einen eklatanten Unterschied: Viel häufiger, viel intensiver gibt es Extremsommer. Der Grund dafür ist der Anstieg der Treibhausgase in der Atmosphäre, also CO₂ und Methan, verursacht durch die Verbrennung von Kohle, Öl und Gas wie auch durch die weltweite Abholzung und die Nahrungsmittelproduktion.
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Warum tun wir uns so schwer, unser Verhalten zu ändern?
Es gibt falsche Anreize. Die Folgekosten der Klima-Erhitzung werden von der Allgemeinheit getragen. Deswegen hatte die Wirtschaft lange Zeit kein Interesse daran, etwas zu verändern. Und psychologisch gibts ebenfalls falsche Akzente.
Was meinen Sie damit?
Nehmen wir beispielsweise die CO₂-Abgabe und die Rückverteilung über die Krankenversicherung. Hier verpufft doch der psychologische Effekt. Wer CO₂ spart, sollte Ende November einen Gutschein fürs Weihnachtsgeschäft bekommen, unterschrieben vom Bundespräsidenten. Das würde motivieren!
Sind die Pariser Klimaschutzziele noch machbar?
Die Schweiz ist das einzige Land, das sich per Volksentscheid zum Netto-Null-Ziel bekannt hat. Das ist super. Das im Juni gutgeheissene Klimaschutzgesetz ist ein wichtiger und richtiger Schritt, aber nicht genug. Uns läuft die Zeit davon.
Heisst das: Paris ist gescheitert?
Nicht ganz, aber das ehrgeizigere Ziel, maximal 1,5 Grad Erwärmung zu erreichen, entgleitet uns. Trotzdem müssen wir alles dafür tun, dass wir wenigstens das 2-Grad-Ziel schaffen. Abwarten ist keine Option.
Müssen es am Ende doch Kernkraftwerke richten?
Als Physiker sage ich: Energienutzung aus dem Atomkern ist eine elegante Technologie. Doch zwei Probleme sind nicht gelöst: Abfall und Sicherheit. Vielleicht können neue Technologien es lösen. Doch das wird noch einige Zeit dauern – und die haben wir nicht. Die erneuerbaren Energien funktionieren jetzt schon, also müssen wir da unverzüglich vorwärtsmachen.
Hat die Atomlobby in der Schweiz keine Chance?
Der Weltklimarat berücksichtigt die Kernkraft in seinen Szenarien. Doch in der Schweiz sind neue Kernkraftwerke heute ausgeschlossen. Das Volk trägt das nicht mit und die Industrie hat momentan kein Interesse.
Laut SRG-Wahlbarometer regt sich die Schweiz am meisten über die CS-Krise und Klimakleber auf.
Das hat mich wirklich überrascht. Die Klimakleber demonstrieren auf friedliche Weise für ein stabiles Klima, was allen zugutekommt. Klar, sie ecken an, wenn sie sich auf die Strasse kleben und den Verkehr aufhalten. Das kann man aber doch nicht mit der jahrzehntelangen Misswirtschaft und Profitgier Einzelner vergleichen, die eine ganze Institution zu Fall gebracht und viele Tausende Arbeitsplätze gefährdet haben!
Wann kleben Sie bei den Klimaklebern mit?
Ich habe Sympathien für die Klimakleber, denn sie drücken eine Besorgnis auf gewaltlose Art eindringlich aus. Für mich ist jedoch eine rote Linie überschritten, wenn Kulturgut, zum Beispiel in einem Museum, beschädigt wird.
Aus den Klimaklebern scheint vor allem die SVP Kapital schlagen zu können. Warum pfeifen Sie die Klimakleber nicht zurück?
Ich bin doch nicht SVP-getrieben! Ich rufe weder bei der SVP an und sage: «Konzentriert euch bitte auf die wichtigen Themen!», noch werde ich den Klimaklebern sagen, dass sie ihren friedlichen Protest abbrechen sollen. Beides gehört zu unserer Demokratie.
Warum profitieren die Grünen nicht von der Klima-Debatte?
Wir sollten die Wahlergebnisse nicht herbeireden, die uns durch Umfragen suggeriert werden.
Thomas Stocker (64) ist ein weltweit anerkannter Klimaforscher. Er ist Professor für Klima- und Umweltphysik an der Universität Bern und war als Vorsitzender verantwortlich für den Uno-Klimabericht IPCC von 2013, der die Grundlage des Pariser Abkommens von 2015 bildete. Stocker ist verheiratet, Vater von zwei erwachsenen Töchtern und lebt in Bern.
Thomas Stocker (64) ist ein weltweit anerkannter Klimaforscher. Er ist Professor für Klima- und Umweltphysik an der Universität Bern und war als Vorsitzender verantwortlich für den Uno-Klimabericht IPCC von 2013, der die Grundlage des Pariser Abkommens von 2015 bildete. Stocker ist verheiratet, Vater von zwei erwachsenen Töchtern und lebt in Bern.
Was halten Sie von Energieminister Albert Rösti?
Ich habe Herrn Rösti unsere Forschung über das Klima der letzten 800'000 Jahre und meine 17-jährige Tätigkeit im Weltklimarat darlegen dürfen. Wir zwei diskutierten über die Konsequenzen für die Schweiz und machten ab, dass das Gespräch vertraulich bleiben soll. Anstatt dass er die Fakten in seiner Partei verbreitete, konnte ich dann in der Zeitung lesen, dass wir ein Treffen hatten. Auf jeden Fall zeigte das Gespräch wenig Wirkung: In den Abstimmungskampagnen zum CO₂-Gesetz von 2021 und zum Klimaschutzgesetz im Juni führte die SVP zweimal eine zunehmend schrillere Lügenkampagne.
Wer steckt dahinter?
Viele Interessengruppen, die am Status quo festhalten wollen, unter anderen die Erdöllobby. Und der Klimaschutz löst bei einigen Verlustängste aus. Das schlachtet die SVP aus, anstatt dass sie anerkennt: Klimaschutz eröffnet viele Chancen und vermeidet Klimaschäden.
Welche Chancen?
Von der Ölheizung, vom Benzin- und Dieselkonsum profitieren vor allem ausländische Energielieferanten. Das ist doch nicht im Schweizer Interesse! Wenn ein Hauseigentümer sich dafür entscheidet, von einer Ölheizung auf erneuerbare Energien zu setzen, profitieren davon die KMU und das Gewerbe in der Schweiz.
Alles wird teurer, das macht den Menschen Angst.
Angst sollten uns vielmehr die Klimaschäden und die Auswirkungen der Klima-Erhitzung auf unsere Ressourcen und unsere Gesundheit machen.
Erwarten Sie von Herrn Rösti, dass er stärker auf seine Partei einwirkt?
Herr Rösti wird daran gemessen, wie die Emissionen in der Schweiz während seiner Amtszeit runtergehen. Für mich wäre es ein Meilenstein, wenn die SVP zu Herrn Rösti sagen würde: Du bist nur noch ein halber Bundesrat! Nicht weil er seine Arbeit schlecht gemacht hat, sondern weil er sie richtig gut gemacht hat.
Das Klima zu schützen, ist kompliziert. Was wäre ganz einfach?
Die Schweiz könnte von heute auf morgen sagen: Wir brauchen keine breiteren Strassen oder keine neuen Autobahnen. Wir pflegen unsere Infrastruktur, aber der private Verkehr hat seine Zeit des Ausbaus hinter sich. Nun konzentrieren wir uns auf den ÖV.
Die SBB würde das freuen!
Ich bin ein grosser Fan der SBB, doch auch hier ist Luft nach oben. Wie konnten sie nur die Nachtzüge abschaffen, statt dieses Angebot deutlich auszubauen? Und bei der Infrastruktur darf nicht gespart werden. Die Versuchung ist gross, hier Abstriche zu machen, weil sich das kurzfristig kaum spürbar auswirkt. Wenn Sie das aber einige Jahre machen, haben Sie plötzlich Verhältnisse wie bei der Deutschen Bahn. Wobei ich neulich von Berlin nach Bern gefahren bin und nur drei Minuten Verspätung hatte. Toll!
Was regt Sie aktuell am meisten auf?
Die Fahrzeuge, die mich als Velofahrer überholen, werden immer grösser, schwerer und kraftvoller. Obwohl für einen Transport von A nach B unnötig, fahren in der Schweiz übermotorisierte SUVs in wachsender Zahl. Was soll das?
Wollen Sie SUVs verbieten?
Ich will keine Verbote, sondern intelligenten und klimaverträglichen Konsum. Ein Porsche Cayenne hat einen Motor, der dafür gemacht ist, eine lahmende Kuh von der Alp runterzuholen. Aber doch bitte nicht, damit Städter einkaufen können.
Wie siehts mit dem Fliegen aus?
Das Fliegen ist ein wichtiger Fortschritt der Menschheit, muss aber teurer werden. Das Fliegen trägt in keiner Weise die Kosten der Schäden, die damit verursacht werden. Wir brauchen eine Kostenwahrheit beim Fliegen.
Und beim Fleisch?
Ich rate jedem dazu, 50 Prozent des Fleischkonsums wegzulassen – Sie werden es nicht merken, das Klima aber sehr wohl. Ich esse zu Hause gerne indisch-vegetarisch und habe 24 verschiedene Gewürze, die ich schön einsetzen kann. Das ist eine neue Lebensqualität, die ich nicht als Verzicht empfinde. Wobei klar ist: Fleisch allein ist nicht das Problem. Auch bei der Reisproduktion entsteht Methan, das wir nicht ignorieren können.
Wohin verreisen Sie in die Ferien?
Unsere Ferien verbringen wir in der Schweiz oder im benachbarten Ausland, oft in Italien – diesen Sommer gehts aber nach Frankreich.