Auf einen Blick
Ihre Eltern waren arm und ihre Gene angeblich schlecht. Rund 2000 Schweizer Kinder mit jenischen Wurzeln wurden ihren Familien entrissen. Das schätzt die Forschung. Die Kinder landeten oft in Heimen, erhielten die Briefe ihrer Eltern nicht, durften ihre Geschwister nicht mehr sehen. Viele erhielten nicht einmal eine ordentliche Schulbildung. Zu diesem unrühmlichen Schluss kommt die Historikerin Sara Galle, die viele Studien zur Unterdrückung der Jenischen veröffentlicht hat.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
Die fatale Konsequenz: Viele Jenische sahen ihre Familien nie mehr. Zur jenischen Kultur, der Kultur der Schweizer Fahrenden, fanden sie nie mehr zurück.
Bundesrat bespricht Völkermordvorwurf
Was die Schweiz zwischen 1926 und 1973 den Jenischen angetan hat, hat bis heute keinen Namen. War es ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im juristischen Sinne? Ein kultureller Völkermord?
Diesen Vorwurf klärt Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider derzeit ab. Im März bestellte sie dafür ein Rechtsgutachten beim Zürcher Professor Oliver Diggelmann.
Das Gutachten ist bereits seit Wochen fertig und soll demnächst dem Bundesrat vorgelegt werden. Es «bildet die Grundlage und Voraussetzung für die Beurteilung des weiteren Vorgehens», schreibt das Bundesamt für Kultur.
Beobachter-Interview als Auslöser
Auslöser für die Abklärungen des Bundes war ein Beobachter-Interview mit Strafrechtsprofessorin Nadja Capus. «Das erfüllt den Tatbestand des Völkermords», sagte sie vor zwei Jahren. Im Eidgenössischen Departement des Innern wirbelte das einigen Staub auf. Dabei hatte Professorin Capus bloss den Konventionstext der Uno zitiert.
Demnach «handelt es sich auch dann um einen Völkermord, wenn man ‹Kinder der Gruppe gewaltsam in eine andere Gruppe überführt oder überführen lässt›». Also genau das, was die halbstaatliche Organisation Pro Juventute bei den Jenischen gemacht habe, sagte Capus.
Rassist als «Hilfswerk»-Gründer
Allein im Rahmen der Pro-Juventute-Aktion «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» hatten die Behörden 586 jenische Kinder ihren Eltern weggenommen. Der Bund förderte das «Hilfswerk» bis 1967 finanziell. Gegründet hatte es Alfred Siegfried, ein verurteilter Sexualstraftäter. Er bezeichnete Jenische rassistisch als «Plage», als «asoziale Menschen» mit «amoralischer Lebensweise».
«Wer die Vagantität erfolgreich bekämpfen will, muss versuchen, den Verband des fahrenden Volkes zu sprengen, er muss, so hart das klingen mag, die Familiengemeinschaft auseinanderreissen», sagte er 1943.
Die Liebe der jenischen Mütter zu ihren Kindern sei «sehr primitiv, um nicht zu sagen animalisch». Die Verfolgung stoppte erst, als der Beobachter die rassistischen Kindeswegnahmen 1972 anprangerte.
Brisante Studie zu katholischen Organisationen
Wichtige Helfer der Pro Juventute waren Lehrerinnen, Gemeindepräsidenten oder Pfarrer. Da die Jenischen in der Regel katholisch waren, wurden katholische Pfarrer oft als Tippgeber für die Wegnahme angeblich gefährdeter Kinder angefragt.
Oder sie wurden um Informationen über mögliche Ehepartner gebeten, um so möglicherweise Ehen zwischen Jenischen zu verhindern.
Das hat die Berner Religionswissenschaftlerin Carla Hagen in ihrer Doktorarbeit aufgedeckt. «Die Diskriminierung der Jenischen hatte auch eine religiöse Komponente, die bislang kaum berücksichtigt wurde», sagt sie.
Jenische als Menschen aus «abstossendem Milieu»
Carla Hagen ist eine der wenigen Forscherinnen, die die Akten des Seraphischen Liebeswerks Solothurn im Bundesarchiv einsehen durften. Ihre Studie wirft kein gutes Licht auf die katholische Organisation.
Sie erscheint nächstes Jahr als Buch unter dem Titel «Jenische Weltsichten. Religionsbezogene Identitätsbildung im Kontext von katholischer Fürsorge und Antiziganismus in der Schweiz».
Das Liebeswerk gab es in mehreren katholischen Kantonen. Es wollte alle katholischen Kinder vor der «sittlichen und religiösen Verwahrlosung» retten, wie das damals üblich war.
Das Fürsorgepersonal der katholischen Organisation habe aber Jenische als «besondere Menschengattung» wahrgenommen, die erblich belastet sei und aus einem «abstossenden Milieu» stamme, so Hagen.
«Die Fürsorgerinnen des Liebeswerks haben angenommen, dass jenische Eltern ihre Kinder verderben würden, weil sie den Wandertrieb anregten.»
Das Ziel des Liebeswerks sei diesbezüglich dasselbe wie dasjenige der Pro Juventute gewesen, «nämlich die Lebensweise dieser Minderheit durch die langfristige Zerstörung des Familienzusammenhalts gänzlich zum Verschwinden zu bringen», schreibt Hagen.
Trauma an nächste Generation vererbt
Welche «langfristigen und belastenden Konsequenzen» die Verfolgung der Jenischen hat, zeigte eine Studie des Psychologischen Instituts der Universität Zürich vergangenes Jahr. Viele Jenische gaben demnach ihr Verfolgungstrauma an ihre Kinder weiter.
So sagt die Betroffene Jeannette Marfurt: «Mein Enkel will nicht, dass ich jenisch mit ihm spreche.» Marfurt nennt sich eine «Beton-Jenische», weil sie in einer Wohnung lebt und nicht mehr mit dem Wohnwagen auf Fahrt geht wie noch ihre Eltern.
«Die Schweiz hat unsere jenische Kultur schon recht kaputtgemacht. Sie wollten unsere Kultur ausrotten.» Ihre Kindheit habe sie in 13 Heimen und drei Pflegefamilien verbracht, sagt die 62-Jährige. «In der Heimhierarchie waren wir als ‹Zigeuner› ganz unten.»
Behörden bleiben ein Leben lang eine Gefahr
Als alleinerziehende Mutter beschützte Marfurt – vor dem Hintergrund ihrer biografischen Prägung – ihre eigenen Kinder wie eine Löwin vor dem Staat. So kam es denn auch zum Streit mit den Schulbehörden wegen der Einschulung.
Der Chefarzt des kinderpsychiatrischen Dienstes des Kantons Thurgau wurde deshalb eingeschaltet.
Er fand 1994 in seinem Gutachten klare Worte: Die Verfolgung der Jenischen habe die Persönlichkeitsentwicklung von Marfurt stark beeinflusst. «Die zerbrochene jenische Familienkultur gab ihr keinen Halt.»
Das «Abseckeln» aus den Heimen sei «das schönste Erlebnis aus ihrer Kindheit» gewesen. Marfurt habe in ihrer Kindheit und Jugend gelernt, «dass Autoritäten da sind, um sie zu umgehen». Deshalb solle sich der Staat nun mit Massnahmen gegenüber Marfurts Kindern zurückhalten, riet der Chefarzt.
Marfurt geriet mit den Schulbehörden aber immer wieder in Konflikt. Der Schulinspektor hatte sich 2002 an der Pensionierungsfeier des Schulpräsidenten sogar über sie lustig gemacht. Marfurt zeigte ihn deshalb an.
Der Schulinspektor musste in einem Vergleich 100 Franken zahlen, wie das Protokoll des Friedensrichteramts Frauenfeld zeigt.
«Erblich schwer belastete» Zweijährige
Auch die Fürsorgerinnen des Seraphischen Liebeswerks setzten auf Härte. Allein im Kanton Solothurn hat die Schwesterngemeinschaft mindestens 92 jenische Kinder betreut. Zwar erhielten die Schwestern die Kinder im Normalfall von den Behörden zugeteilt, um sich um sie zu kümmern. Aber nicht immer.
In einzelnen Fällen wurden die Kinder ihren jenischen Familien nur deshalb entrissen, weil das Seraphische Liebeswerk die Behörden dazu drängte, wie die Forscherin Carla Hagen in ihrem Buch schreibt.
So versuchte eine Vormundin 1950 zu verhindern, dass eine Familie mit ihrer zweijährigen Tochter nach Australien auswandern konnte. Die Mutter stamme aus einer «erblich schwer belasteten jenischen Korberfamilie», weshalb das Kleinkind von ihr ferngehalten werden müsse, schrieb sie.
Auswanderung bringt Kind zurück
Als der Solothurner Regierungsrat die Auswanderung dennoch bewilligte, legte das Liebeswerk Rekurs ein. Die Vormundin wollte das «erblich schwer belastete» Mädchen nicht aus dem Heim hergeben.
Am 20. Oktober 1950 entschied der Solothurner Regierungsrat jedoch endgültig, «dass ein Mensch nicht einzig von seinen Anlagen geleitet wird», und bewilligte die Ausreise. Auch um sich möglicher Sozialkosten zu entledigen, wie Hagen schreibt.
Selbst 50 Jahre später waren Härte und Vorurteile in Solothurn noch immer präsent. Die Jenischen-Akten der Pro Juventute lagerten damals bereits im Bundesarchiv, damit niemand sie zerstören konnte.
Das Liebeswerk hatte seine Jenischen-Akten jedoch noch immer bei sich. Und es vernichtete 1994 in mindestens einem Fall absichtlich die Akten eines Jenischen. Damit er seine Verwandten nicht wiederfinde, schreibt Hagen. Diese seien «als gewalttätig, verantwortungslos und geldversessen» dargestellt worden.
Liebeswerk bestreitet alles
Das Seraphische Liebeswerk Solothurn bestreitet gegenüber dem Beobachter, dass es jenische Kinder anders behandelt hat als die anderen Kinder.
Das Liebeswerk habe seinen Teil zur Aufarbeitung beigetragen, indem man 2010 alle Akten von Fahrenden dem Bundesarchiv übergeben habe. Wo gearbeitet werde, würden auch Fehler passieren.