Nur im Notfall zum Doktor fahren. Für 800 Kinder im Kanton Thurgau ist das derzeit Realität. Weil die Eltern die Krankenkassenprämien nicht bezahlt haben, stehen die Kinder auf einer Schwarzen Liste (BLICK berichtete). Der Bundesrat kritisiert diese herzlose Politik: Der Kanton Thurgau verstosse gegen die Uno-Kinderrechtskonvention. Diese besagt, dass bei allen Massnahmen, die die Kinder betreffen, das Kindswohl an erster Stelle kommen muss – und nicht die Kantonskasse.
Doch die Thurgauer Regierung kümmert sich nicht darum. Sie hält an umstrittenen Massnahme fest. «Denn wenn die Eltern die Prämien nicht bezahlen, vernachlässigen sie die Kinder, nicht der Kanton.» Dank der Liste könne der Thurgau den Kindern besser helfen, sagt der Finanzvorsteher Jakob Stark (61, SVP). Die Gemeinden würden nämlich mit säumigen Prämienzahlern Kontakt aufnehmen und sie individuell betreuen.
«Ein Armutzeugnis»
Das sieht Edith Graf-Litscher (55) ganz anders: «Das ist ein Armutszeugnis für den Thurgau!», enerviert sich die SP-Nationalrätin. Sie war in dieser Sache an den Bundesrat gelangt. «Ich hätte erwartet, dass der Regierungsrat der klaren Ansage der Landesregierung folgt und die Kinder von der Liste streicht.»
Dem Thurgau drohen nun Klagen. Denn für den Bundesrat ist klar: Betroffene könnten vor Gericht ziehen und sich auf die Kinderrechtskonvention beziehen. Regierungsrat Stark sagt aber, er habe keine Angst vor Klagen: «Ich würde den Betroffenen raten, mit dem Geld lieber die Prämien zu bezahlen, als vor Gericht zu gehen.»
Kinderärzte in der Zwickmühle
Der Thurgauer Regierungsrat stellt sich auf den Standpunkt, dass die Prämienverbilligungen im Kanton ausreichten, um die gesamte Prämie für die Kinder zu zahlen. Es landeten also nur jene auf der Liste, die nicht bezahlen wollen.
So oder so, die Kinderärzte stecken in der Zwickmühle. Handeln sie streng nach Gesetz, leiden die Kinder – egal daran nun die Eltern oder die Kantonsregierung die Schuld tragen. Wenn Ärzte Herz zeigen und den Notfallbegriff etwas weit auslegen, kann das dazu führen, dass sich die Krankenkassen weigern, die Kosten zu übernehmen. «Dann bleiben die Ärzte auf diesen Kosten sitzen», muss Stark einräumen.
SP-Nationalrat will Bundeslösung
Graf-Litscher hofft jetzt, dass der Kantonsrat nochmals aktiv wird. Im vergangenen Juni lehnte er eine Motion knapp ab, die Kinder streichen wollte. «Durch den Rüffel des Bundesrats hat sich die Sachlage aber geändert.»
Auf nationaler Ebene wird jetzt SP-Nationalrat Angelo Barrile (43) aktiv. Er möchte mit einer Motion erreichen, dass die Kinder gar nicht erst auf die Schwarze Liste kommen.