Anne Lévy (52) ist die oberste Gesundheitschefin der Schweiz. Die Bernerin ist seit drei Jahren im Amt. Sie kam als Direktorin mitten im Pandemiechaos dazu. Doch während ihr Chef Alain Berset (51) als «Pandemiegeneral» durch die Presse ging, blieb sie der Öffentlichkeit weitgehend verborgen.
An Pressekonferenzen zusammen mit Berset kam sie bisweilen steif und emotionslos daher. Neben einem dominanten Bundesrat zu bestehen, schien nicht einfach zu sein, so der Eindruck. Doch nun tritt Berset ab, und Elisabeth Baume-Schneider (59) übernimmt. Damit öffnen sich der Direktorin neue Chancen.
Während der Pandemie musste Lévy rennen und Löcher stopfen. Das Amt war auf eine Pandemie nicht vorbereitet. Das war nicht ihre Schuld, sondern die der Amtsvorgänger, doch Lévy musste die Kritik einstecken. Zwei Jahre lang war an Reformen kaum zu denken – so trat sie als oberste Chefin kaum in Erscheinung.
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Fragt man die Mitglieder im Parlament, ob sie Lévy kennen, sagen die meisten: «Nur vom Namen her.» Selbst in der Gesundheitskommission sieht man sie selten. Das Gesicht des Bundesamtes sei nicht sie, sondern ihr Stellvertreter, sagt SVP-Kommissionsmitglied Hannes Germann (67), und dieser heisst Thomas Christen. Eine ähnliche Antwort erhielt die «Handelszeitung» von rund einem Dutzend Anspruchsgruppen des BAG.
Der Grund: Christen leitet das operative Geschäft der obligatorischen Krankenversicherungen. Ob Prämien, Tarife, Vertriebsmargen der Apotheken, Zulassungen, Generika oder Medikamentenpreise: Alles geht über seinen Tisch. All die Stakeholder versuchen, sich mit Christen gut zu stellen. Aber kaum jemand spricht mit Lévy. Das ruft nach einer Erklärung.
Wie Lévy im direkten Gespräch wirkt
Gesprächstermin mit der «Handelszeitung». Lévys Büro im BAG-Hauptquartier Liebefeld ist nicht feudal, ihr Tisch nicht überladen. Der Hund, mit dem sie schon in den Schlagzeilen war, weil sie Vierbeiner im Büro erlaubt, ist nicht da. Eine grosse, elegant gekleidete Frau tritt einem gegenüber. Ein freundlicher Händedruck, der sie weniger steif wirken lässt als bei den öffentlichen Auftritten mit Berset.
Die Aufgabenteilung zwischen ihr und ihrem Stellvertreter Christen sei eingespielt, sagt die studierte Politwissenschafterin. Es mache keinen Sinn, zu zweit in Kommissionssitzungen des Parlaments zu erscheinen. Sie sei über die wichtigen Aspekte informiert und vertrete die über die Krankenversicherung hinausgehenden Themen wie die Tabakgesetzreform oder die Digitalisierung selbst. Das sei ihr Führungsstil.
Anne Lévy hat im Amt ausgemistet. Fünf von neun Führungsleuten sind seit ihrem Antritt ausgewechselt worden. Das Eigenbudget sinkt um 45 auf rund 200 Millionen Franken. 40 Leute haben das Amt verlassen, weil die Pandemie vorüber ist. Dafür werden fünf Leute neu im Bereich Digitalisierung tätig sein. «Lévy hat so umorganisiert, dass das Bundesamt heute besser funktioniert als vor und während der Pandemie», sagt SP-Nationalrätin Barbara Gysi (59). Lévy habe den Betrieb beruhigt.
Im Gespräch nennt Anne Lévy klare Vorstellungen. Sie sagt als erstes, sie wolle die öffentliche Gesundheit stärken. Das beginne bei der Prävention. Je länger man gesund lebe, desto besser für die Betroffenen und fürs Gesundheitswesen. Daher der Begriff «Public Health». Ein Beispiel: Eine Studie in Graubünden zeigte, dass nach Einführung des Rauchverbots in der Gastronomie 2008 die Zahl der Herzinfarkte bereits sechs Monate später zu sinken begann. Ein Jahr später war sie um einen Fünftel tiefer als vor dem Verbot. Vor Krankheiten schützen und damit Kosten senken, das gelte auch bei Drogen, Ernährung und sexuellen Krankheiten. Dafür gebe es wissenschaftliche Evidenz.
Grosse Herausforderung: Bundesrätin Baume-Schneider im Innendepartement
Dass Prävention ihr Steckenpferd ist, zeigt Lévys Lebenslauf. Ihr halbes berufliches Leben widmete sich der Eindämmung von Sucht, sie kennt die Studien, die beweisen, dass sich ein Staatseingriff lohnt. Evidenz als Grundlage für politische Entscheide sei für Lévy wichtig, sagt eine ihr wohlgesinnte Person. Doch jetzt steht sie vor der Aufgabe, ihre Schwerpunkte auch in der obligatorischen Krankenversicherung klarzumachen. Doch die Sorge Nummer eins der Bevölkerung ist die Prämienexplosion.
Lévys Digitalisierung ist unterwegs
Lévy antwortet, im Obligatorium habe sie vier Ziele: erstens die volle Digitalisierung des Gesundheitswesens zur verbesserten Effizienz von Behandlungen, zweitens den Abbau von Fehlanreizen zu kostentreibenden Behandlungen, drittens die Überprüfung des Behandlungskatalogs und viertens die Missbrauchsbekämpfung.
Die volle Digitalisierung des Gesundheitswesens ist vom Bundesrat soeben entschieden worden. Es ist dies Lévys Programm. Das Parlament muss 392 Millionen dafür bewilligen, und Economiesuisse steht dahinter. Sie komme spät, aber sie komme, so der Kommentar. Ein verbindliches Patientendossier wurde im Grundsatz vom Parlament am Freitag beschlossen.
Der Streit um Fehlanreize im Zusammenhang mit ambulanten versus stationären Behandlungen dürfte noch in dieser Wintersession gelöst werden. Das Parlament will, dass Spitalaufenthalte, ob ambulant oder stationär, künftig aus einer Hand bezahlt werden. So dürften Fehlanreize zur kostentreibenden Spitaleinweisung verschwinden.
Zwar ist dies ein Programm des Parlaments, nicht Lévys. Doch es wäre die grösste Reform im Obligatorium seit 20 Jahren, und Lévy müsste sie umsetzen. Die Befürworterinnen und Befürworter sagen, dass die Kosten jährlich um 4 Milliarden Franken sinken könnten. Dies entspricht etwa 12 Prozent der Krankenkassenprämien. Dennoch steht die Reform auf Messers Schneide, weil die Gewerkschaften mit dem Referendum drohen. Lévy sagt, sie hoffe sehr, dass das Parlament diese Reform unverändert verabschiede.
Bersets Boy Group
Berset hat Lévy bisher abgeschirmt und voll auf zwei Personen gesetzt, die aus seinem engsten politischen Umfeld stammen: auf Stefan Honegger (45) und den erwähnten Thomas Christen. Honegger ist Bersets persönlicher Mitarbeiter und Christen sein früherer langjähriger persönlicher Mitarbeiter. Beide sind Juristen. Christen war lange Generalsekretär der SP Schweiz, Honegger diente unter SP-Justizministerin Simonetta Sommaruga als politischer Referent im Generalsekretariat. Honegger, so sagen Verbandsvertretende, habe ganze Sparpakete verhandelt. «Berset gab ihm viel Freiraum», so ein Kenner. Wer zu Berset wollte, musste über Honegger oder Christen gehen. Dieses Trio, sagen Aussenstehende, habe alle Vorlagen der letzten Jahre in der obligatorischen Krankenversicherung geformt. Lévy stand bislang aussen vor.
Das hat dem BAG bei den Bürgerlichen und der Pharma den Ruf eingebracht, ein «linker, ideologischer Haufen» zu sein. SVP-Ständerat Germann sagt: «Ich werde den Eindruck nicht los, dass das BAG primär eine politische Agenda verfolgt: die Einheitskrankenkasse. Koste es, was es wolle.» Mit der Blockierung von guten Lösungen – mehr Qualität, weniger Bürokratie – erweise das Bundesamt den Prämienzahlenden einen Bärendienst. Der Schaffhauser fordert mehr Innovation und nennt ein einfaches Beispiel: Den Patientinnen und Patienten soll erlaubt werden, rezeptpflichtige Medikamente im Ausland günstiger einkaufen zu können. «Dann würden die Pharmapreise im Inland automatisch unter Druck kommen», sagt Germann.
Lévy will den Leistungskatalog überprüfen
Wo Lévy politisch genau steht, ist offen. Zur SP gehört sie nicht. Ihr «Public Health»-Ansatz wird unter Bürgerlichen und Verbänden zuweilen kritisiert, weil man «sich gut dahinter verstecken» könne, um keine Entscheidungen zu treffen. Als Beispiel genannt wird die Wirkungsüberprüfung von Therapien und Medikamenten. Berset brüstete sich gerne damit, dass unter seiner Ära keine Leistungen abgebaut wurden.
Lévy sagt, dass sie die Überprüfung des Leistungskatalogs vorantreibe. Die Wirkungsüberprüfung, genannt HTA, habe bisher jährlich im Schnitt rund 75 Millionen Franken eingespart – das wären 0,2 Prozent der Krankenkassenprämien. Im Netz zu finden ist eine lange Liste offener Verfahren. Die Wirksamkeit vieler Behandlungen sei «unklar», heisst es dort, und werde überprüft. Das Problem seien die vielen Einsprachen seitens Betroffener dagegen, die bis vor Bundesgericht gehen würden, sagt Lévy.
Die Pharma beklagt derweilen, dass das BAG vor allem Medikamente überprüfe und nicht auch alle anderen Therapieformen. Industrievertretende geben zu, dass Verfahren auch wegen Rekursen blockiert sind. Und so ist von aussen betrachtet nicht ganz klar, wer die Schuld am langsamen Tempo trägt.
Im Dauerstreit mit der Pharma
Parallel laufen diverse Initiativen, so zum Beispiel eine Vorlage, die den Anreiz schafft, günstige Generika statt teure Originalpräparate zu kaufen. In den letzten drei Monaten verabschiedete der Bundesrat diverse Massnahmen, von denen sich ihr Amt Einsparungen von 300 Millionen Franken pro Jahr verspricht. Oft geht es um Medikamentenpreise. Hier steckt Lévys Stellvertreter Christen im Dauerkonflikt mit der Pharma: Die Branche fordert, dass seine Chefin dies korrigiere. Lévy müsse «vermehrt die Qualität und Versorgungssicherheit in die Preisgestaltung miteinbeziehen», heisst es beim Interessenverband Interpharma. Aber man akzeptiere den Umstand, dass dies «ein schwieriger Balanceakt» sei, sagt Verbandsdirektor René Buholzer.
Lévy sagt, manchmal müsse man auch unpopuläre Entscheide mittragen, selbst wenn auf der Strasse demonstriert werde, wie zuletzt durch die Physiobranche. Der anstehende Hosenlupf um zeitgemässe Tarife – die «Handelszeitung» hat darüber berichtet – dürfte zeigen, ob Lévy das Rückgrat hat, sich durchzusetzen. Bisher war es Berset.
Ihre neue Chefin, Elisabeth Baume-Schneider, gilt weder als Machtmensch noch als dossier- oder führungsstark. Dies dürfte Anne Lévy eine Chance eröffnen, zu zeigen, was sie kann. Ihre Kritikerschar dürfte sie am wohl wichtigsten «Public Health»-Grundsatz packen: «Ein leistungsfähiges und bezahlbares Gesundheitssystem sicherstellen». So steht es bei der Uni Basel auf der Homepage.