«Impfungen kennen die meisten nur aus den Nachrichten»
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Impfnotstand im globalen Süden:Ärztin zum Impfnationalismus

Impfnotstand im globalen Süden
«Impfungen kennen die meisten nur aus den Nachrichten»

Weil in ärmeren Ländern viel zu wenig geimpft wird, mutiert das Coronavirus immer weiter. Für reiche Nationen wie die Schweiz ist das gefährlich.
Publiziert: 30.05.2021 um 19:07 Uhr
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Aktualisiert: 30.05.2021 um 20:54 Uhr
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Das freut Gesundheitsminister Alain Berset: In der Schweiz wird bis heute Sonntag abermals eine Million Impfdosen des US-Biotechunternehmens Moderna erwartet – inzwischen sind hier mehr als 4,2 Millionen Menschen mindestens einmal gepiekst.
Foto: Philippe Rossier
Sven Zaugg

Es waren erfreuliche Neuigkeiten, die Bundesrat Alain Berset (49) am Donnerstag verkünden durfte. In der Schweiz wird bis heute Sonntag abermals eine Million Impfdosen des US-Biotechunternehmens Moderna erwartet – inzwischen wurden hier mehr als 3 Millionen Menschen mindestens einmal gepikst. Der Weg zu einem halbwegs normalen Leben in der Pandemie scheint in Griffweite.

Global bleibt die Lage fragil. Zwar haben sich reiche Länder massenhaft Impfdosen gesichert, in ärmeren Regionen der Welt aber herrscht Knappheit, wie neuste Zahlen der Impfdatenbank «Our World in Data» belegen.
So sind fast 60Prozent der Briten mindestens einmal geimpft, während die Quote in Nigeria bei knapp einem Prozent liegt.

Das ist gefährlich. Denn Mutationen des Coronavirus, die in afrikanischen, asiatischen oder lateinamerikanischen Ländern grassieren, sind auch eine akute Gefahr für die Schweiz.

Der Virologe Volker Thiel (54) von der Universität Bern spricht von einer «unübersichtlichen Lage». Man dürfe sich nicht in Sicherheit wiegen, solange das Virus in vielen Regionen der Welt weitgehend ungebremst weitergegeben wird.

Wie gut ist der Schutz gegen die Virusvarianten?

Thiel: «Da besonders in ärmeren Regionen der Welt auch weniger oder gar nicht sequenziert wird (Untersuchung des Virus-Erbguts; Red.), ist die Entstehung und Ausbreitung neuer Varianten nicht zeitnah verfolgbar – und sie werden erst bemerkt, wenn sie dort auftauchen, wo sequenziert wird.» Wie etwa in der Schweiz, wo es dann zu spät ist. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen sind bekannt.
Zwar bieten die Corona-Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Astrazeneca laut einer Studie der britischen Behörden einen relativ hohen Schutz vor einer Erkrankung mit der indischen Virusvariante. Offenbar weniger gut schützen sie aber vor der südafrikanischen und der brasilianischen Variante.

Anders gesagt: Aus virologischer Sicht müssten Industrienationen alles dafür tun, Impfungen in ärmeren Regionen zu beschleunigen, um weitere Mutationen zu verhindern. Laut Experten ist ein Ende der Pandemie erst in Sicht, wenn rund 75 Prozent der Erdbevölkerung immun sind. Beim gegenwärtigen Tempo dürfte dies noch Jahre dauern.

Für Maria Guevara (54), internationale medizinische Leiterin der Hilfsorganisaton Ärzte ohne Grenzen (MSF), haben die neuen Ausbrüche mit einer «eklatanten Ungleichheit bei der Verteilung der Impfstoffe» zu tun. «Die Industrienationen unterstützten die Forschung und Entwicklung der Pharmaindustrie mit Milliarden Dollars, schlossen Vorverträge ab und sicherten sich so das exklusive Recht auf die Impfstoffe.» Wer bei diesem «Monopoly der Gesundheit» nicht mitbieten könne, bleibe auf der Strecke.

«Unsere Spezialisten berichten von prekären Situationen. Im Kongo kämpfen wir nicht nur gegen Corona, sondern auch gegen eine der grössten Masernepidemien seit Jahren.» Es fehlt an Masken, Beatmungsgeräten und Medikamenten – Impfungen kennen die meisten nur aus den Nachrichten.

Auch in Zukunft Ausbrüche möglich

Das könnte für die Industrienationen zum Bumerang werden. Oder wie es der Berner Virologe Thiel formuliert: «Es kann auch in Zukunft in Ländern mit gutem Impfschutz lokal wieder Ausbrüche geben.» Gerade dann, wenn das Virus mutiert.

Der Vakzin-Not in ärmeren Ländern sollte eigentlich Covax begegnen, eine internationale Kampagne der Weltgesundheitsorganisation. Ihr Ziel: eine weltweit faire und schnelle Verteilung von Vakzinen. Ende Februar lieferte Covax die ersten Impfdosen ins westafrikanische Ghana. Seitdem harzt es. Letzte Woche lag die ausgelieferte Menge erst bei 70 Millionen Dosen. Eigentlich hätten es zu diesem Zeitpunkt mehr als 190 Millionen sein sollen.

Mit ein Grund für das Versagen ist der Exportstopp des wichtigsten Covax-Lieferanten Indien. Weil die Fallzahlen im südasiatischen Land explodiert sind, stoppte die Regierung vorübergehend Exporte aus dem Serum Institute in Pune, dem weltweit grössten Impfstoffhersteller.

Maria Guevara von Ärzte ohne Grenzen: «Die Lieferungen für Covax kommen zum Erliegen, sobald produzierende Länder oder grosse Industrienationen ihre Impfstoffe selber brauchen oder über Gebühr bestellen und dann horten. Ein solcher Mechanismus ist zum Scheitern verurteilt.»

Es gäbe aber noch einen anderen Weg, die Immunisierung der Weltbevölkerung zu beschleunigen. So hat sich die US-Regierung hinter die Forderungen ärmerer Länder und vieler Hilfsorganisationen gestellt, dass Pharmafirmen vorübergehend den Patentschutz auf ihre Corona-Impfstoffe verlieren.

Dann dürften Hersteller in aller Welt die Impfstoffe produzieren, ohne hohe Lizenzzahlungen an Platzhirsche wie Biontech/Pfizer und Moderna zahlen zu müssen oder Klagen zu riskieren. Mehr als 100 Länder haben sich für den Vorstoss ausgesprochen.

Bundesrat will Impfpatente nicht teilen

Widerstand gegen die Initiative kommt aus der Pharmaindustrie und aus Staaten mit einflussreichen Pharmaunternehmen – so auch aus der Schweiz. Bundespräsident Guy Parmelin (61) sprach sich in den vergangenen Wochen dezidiert gegen die temporäre Aufhebung des Patentschutzes aus.

«Der Patentschutz ist notwendig für die Innovation – dafür, dass neue Ideen entwickelt und neue Entwicklungen gemacht werden können», sagte Parmelin im Interview mit dem Schweizer Fernsehen. Die Pharmaindustrie – unter anderen Biontech und Moderna – macht geltend, dass die Produktion von Coronavirus-Impfstoffen komplex sei und durch eine Lockerung des Patentschutzes nicht beschleunigt werden könne.

Patrick Durisch (55) von der Nichtregierungsorganisation Public Eye hält dies für ein «billiges Ablenkungsmanöver» und verweist auf brachliegende Produktionskapazitäten von Dänemark bis Südafrika sowie laufende Forschungsprojekte für besonders wirkungsvolle mRNA-Impfstoffe in asiatischen Ländern. «Doch die Pharmaindustrie treibt die Angst um, dass dadurch die Innovation zusammenbricht und Patentfreigaben für Impfstoffe auch in Zukunft erzwungen werden können.» Dies wolle die Pharmabranche tunlichst vermeiden, sagt Durisch.

Dass es im Patentstreit bald eine Einigung gibt, ist unwahrscheinlich. Und die Europäische Union machte diese Woche bereits klar, wo ihre Prioritäten liegen: Sie genehmigte trotz eigener Engpässe den Export von mehr als 100 Millionen Dosen Corona-Impfstoff nach Japan, damit die Olympischen Sommerspiele dort wie geplant stattfinden können.

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