Heute Dienstag entscheidet der Zürcher Freisinn, wer für ihn in einem Jahr den Sitz im Regierungsrat zurückerobern soll, der 2019 an den Grünen Martin Neukom (36) ging. Es ist ein Stück weit eine Richtungswahl, der das Selbstverständnis der wichtigen Kantonalpartei bestimmen könnte. Denn mit dem Küsnachter Gemeindepräsidenten Markus Ernst (49) und Avenir-Suisse-Direktor Peter Grünenfelder (54) stehen sehr unterschiedliche Persönlichkeiten zur Auswahl.
Persönlichkeiten, die auch zeigen, wie breit man den Begriff «liberal» heute auslegen kann. Beispiel Ausländerstimmrecht: Ernst lehnt ein solches ab, Grünenfelder hingegen findet, dass Gemeinden, die das wollen, Erfahrung damit sammeln sollten. Ohne grosses Tamtam, einfach mal in Pilotversuchen.
Beispiel Klimapolitik: Ernst setzt auf lokal produzierten Strom statt fossile Brennstoffe, Grünenfelder nennt schattenspendende Bauten, hitzeresistente Pflanzen und Mobility Pricing.
Ochsentour oder Quereinsteiger
Ernst ist seit 2013 Küsnachter Gemeindepräsident und hat die klassische Ochsentour absolviert. Grünenfelder hingegen hatte noch nie ein politisches Amt inne. Er sieht das keineswegs als Nachteil: Markus Ernst stehe für die traditionelle politische Karriere – er hingegen für «liberalen Aufbruch und Erneuerung».
Und weniger Staat, sollte man hinzufügen. Als Direktor einer «liberalen Denkfabrik» schiesst er seit Jahren gegen den vermeintlich aufgeblähten Staat – würde er gewählt, würde er diesen mit Sicherheit auf Diät setzen.
Grünenfelder will frischen Wind in die Zürcher Politik bringen. Sein Standardsatz: «Zürich muss wieder Lokomotive der Schweiz werden.» Er will die Steuern senken, Start-ups anziehen und generell wieder «mehr ausprobieren». Für ihn ist klar, Zürich muss sich mit London, Singapur, Hongkong messen.
Ernst steht für das ländliche Zürich
Ausprobieren und sich den Kopf einrennen? Markus Ernst verweist auf seine langjährige Erfahrung und sein «Gespür dafür, was tatsächlich machbar ist». Sein Hauptziel ist, die Gräben, die die Corona-Politik aufgerissen hat, zuzuschütten, um «das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik zurückzugewinnen».
Der Küsnachter vertritt zudem das ländliche Zürich – das könnte ein Vorteil für ihn sein. Denn mit Carmen Walker Späh (64), die bei den Wahlen 2023 wieder antritt, sitzt schon eine Stadtzürcherin für die FDP im Regierungsrat. Ernst will die Stimme für die ländlichen Regionen Zürichs sein, die er in der Kantonsregierung untervertreten sieht.
Zweiter FDP-Sitz noch nicht sicher
Egal, ob sich die Zürcher FDP fürs «Ausprobieren» oder «das Machbare» entscheidet: Ob die FDP den Sitz überhaupt holen kann, ist fraglich. Wie gross die Chancen sind, wieder zu zweit in der Regierung vertreten zu sein, wird nicht zuletzt auch davon abhängen, ob Finanzdirektor Ernst Stocker (66, SVP) und Bildungsdirektorin Silvia Steiner (64, Mitte) im Februar nochmals antreten. Eine Vakanz würde die Chancen der FDP sicher erhöhen.